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      Drei Tage aus zweiter Hand

      Am Tag, als die Geschehnisse ins Rollen kamen, war Robert nur indirekt verantwortlich dafür, dass er zu spät zum Unterricht kam. Als Lehrer am Stadtteilgymnasium musste er nicht nur selbst zu jeder Unterrichtsstunde pünktlich erscheinen, sondern auch, in seiner Vorbildfunktion als Erwachsener und Lehrer, immer wieder seine Schüler und Schülerinnen erinnern, wie wichtig Pünktlichkeit im Leben war. Dass ihm dabei im Prinzip niemand zuhörte, er jedoch trotzdem immer wieder beharrlich diese paar Sätze predigte, ließ ihn irgendwann die Vermutung anstellen, dass er eigentlich sich selbst ansprach, weil Pünktlichkeit für ihn ein täglicher Kampf war, besonders was die erste Stunde anbelangte.

      Direkt Schuld an seinem Zuspätkommen am Morgen war seine Uhr, die in der Nacht stehen geblieben war und ihn deshalb nicht geweckt hatte. Es war eine Armbanduhr, die er von seinem Vater zu seinem 18. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

      Das Design war relativ schlicht. Ziffernblatt, Zeiger und ein kleines Feld, das den Wochentag anzeigte. Als versteckte Besonderheit war jedoch ein kleiner Wecker integriert, der eine bekannte Melodie aus der Oper „Carmen“ von Georges Bizet abspielte. Damals überreichte sein Vater ihm die Uhr mit den Sätzen: „Sohn, hier ist ein Geschenk, das dir das Leben erleichtern wird. Und vergiss nicht, Pünktlichkeit ist eine Tugend!“ Abgesehen von den Worten seines Vaters, mochte er die Uhr von Beginn an.

      Jeden Morgen freute er sich über die rollenden Opernklänge, auch wenn es lange gedauert hatte, bis er beim Erklingen der Melodie nicht mehr an seinem Vater denken musste. Eigentlich wusste Robert dass, wenn der Sekundenzeiger immer öfter an einer Stelle hängen blieb, er die Batterie auswechseln musste. Ihm war aufgefallen, dass dies schon hin und wieder passierte, und die Batterie stand auf seiner Einkaufsliste als „dringend“ gekennzeichnet.

      Aber die letzten Wochen waren die Hölle gewesen. Nächste Woche würden die Sommerferien beginnen. Die vergangenen vierzehn Tage hatte er, Abend für Abend und sogar noch am Wochenende, Klausuren korrigiert, Zeugnisnoten vergeben, wieder abgeändert, sich völlig unnötig über das Verhalten des einen oder anderen Schülers oder Schülerin den Kopf zerbrochen und die Versetzung von zwei seiner Schäfchen in einem Hin und Her abgewogen. Gerade während dieser zähen Stunden am Schreibtisch, hatte er oft seine Uhr betrachtet und bemerkt, dass der Sekundenzeiger immer wieder kurz hängen geblieben war.

      Jetzt lief er schnellen Schrittes zum Uhrmacher. Heute Abend würde ein wichtiges Essen mit seiner Familie stattfinden, zu dem er unter keinen Umständen zu spät kommen durfte. Er musste die Batterie für seine Uhr besorgen und später in der Stadt für die Festlichkeiten noch eine neue extravagante Krawatte erstehen.

      Sein Vater war letzte Woche pensioniert worden. Selbstverständlich schaute er auf Jahre des beruflichen Erfolges zurück. Er war, wie Robert selbst, Lehrer und zudem noch Rektor an einem der bekanntesten Gymnasien der Stadt gewesen, hochgeschätzt vom Kollegium, sicherlich unter Tränen seiner langjährigen Sekretärin am letzten Donnerstag verabschiedet.

      Heute nun sollte eine kleine Feier stattfinden. Aber was gab es zu feiern? Robert konnte sich vorstellen, dass sein Vater mit Schrecken diesem Tag entgegengesehen hatte, denn wer war er schon ohne seine Arbeit? Was würde er, außer sich in seiner Bibliothek verschanzen, mit den verbleibenden Tagen seines Lebens anfangen? Und wie würde seine Mutter damit leben?

      Robert betrat den kleinen Uhrenladen, der seit mehreren Jahrzehnten diese Straßenecke schmückte. Es war sein erster Besuch dort. Seine Uhr brauchte nicht häufig einen Batteriewechsel, und das letzte Mal hatte er sie im Urlaub in Irland ersetzen müssen. Der Verkaufsraum war winzig und bis zur Decke mit Uhren aller Art verziert. Die Wände waren teils vertäfelt, teils in lila gestrichen, was dem alteingesessenen Laden irgendwie eine moderne Note gab. Der Verkaufstisch war ebenfalls lila. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Glasschaukasten, der rechts und links mit zwei Barhockern geschmückt war – in lila. Der graue Teppichboden passte nur halb dazu und machte, dass der Raum gedrungen, aber auch gemütlich wirkte.

      Über den Verkaufstisch hinweg, konnte Robert in die kleine Werkstatt schauen, in der Reparaturen durchgeführt wurden. Ein kleines Uhrenhospital, doch wo war der Chefarzt? Eine kleine, ältere Frau bog um die Ecke. Sie begrüßte ihn und erkundigte sich nach seinen Wünschen. „Ich brauche eine neue Batterie für meine Armbanduhr.“ Robert nahm die Uhr ab und reichte sie ihr. „Davon gibt es genügend hier. Mal schauen, was das Schätzchen für eine Batterie benötigt“, antwortete die Dame, nahm vorsichtig die Uhr und drehte sie auf den Bauch. Dann setzte sie eine Brille auf, auf deren rechtem Glas eine Lupe saß. Die Lupe war anscheinend so schwer, dass der Brillenbügel auf der linken Seite nach oben gehoben wurde und sich zu Seite stellte. Die gesamte Last der Brille wurde vom rechten Bügel getragen. Robert betrachtete die Frau und blieb mit seinem Blick an ihrem grauen Haar hängen. Es sah drahtig aus. Er war sich sicher, dass es sich um eine Perücke handelte. Aber warum grau, wenn sie schon eine Perücke benutzte? Weiter hinten an der Wand, die den Verkaufsraum von der Werkstatt teilte, las er den eingerahmten Meisterbrief, mit dem Namen der Meisterin und dem Datum ihrer Meisterprüfung. Er beschloss, dass rote Haare angesichts dieses fortgeschrittenen Alters reichlich unpassend gewesen wären.

      Als er seinen Blick wieder senkte, bemerkte Robert, dass die Frau ihn beobachtete. „Ganz schön zerkratzt Ihre Uhr, und im Inneren hat jemand ziemlich viele Fingerabdrücke hinterlassen.“ „Das war ich nicht“, erwiderte Robert schnell, so als hätte er eine Rüge von seiner Mutter erteilt bekommen. „Das letzte Mal wurde die Batterie auf einer Reise nach Irland gewechselt.“ „Pfuscher, ein Verbrechen ist das, so etwas macht man nicht“, murmelte die Uhrenmeisterin professionell. Sie holte aus einer Schublade unter dem Verkaufstisch eine verpackte neue Batterie, die sie geschickt aus der Verpackung heraus drückte und mit einer Pinzette in Roberts Armbanduhr einsetzte. Die Zeiger bewegten sich nicht. Robert wurde unruhig. Was war mit seiner Uhr? Er schaute die Meisterin an und versuchte aus ihrem Blick zu lesen, welche Ursachen das beharrliche Feststehen der Zeiger haben könnte und vor allem, welche Maßnahmen sie einleiten würde, um dies zu beheben. Sie nahm die Uhr und ging in die Werkstatt.

      Der Arbeitsraum war so klein, dass ihr Rücken noch zu sehen war als sie, das Gesicht zur Wand gerichtet, ein Gerät einschaltete. Das Scheppern von Metall auf Metall trieb Robert eine Gänsehaut über den Körper. Was passierte mit seiner Uhr? „Ist alles in Ordnung?“, fragte er zaghaft. „Ich versuche Ihre Uhr wieder zu beleben.“ Nach ein paar Sekunden kam sie zurück und reichte ihm mit zufriedenem Blick die Uhr. Sie erklärte ihm, dass die Reanimation gelungen sei. Sie hatte die Zeiger mit einem Magnetfeld wieder zum Laufen gebracht. Robert strahlte. „Warten Sie, ich stelle sie Ihnen noch ein.“ Offensichtlich waren Uhren wirklich ihre Leidenschaft.

      Robert legte sich seine Uhr um und schaute sie an. Siebzehn Uhr. Wie konnte das sein? Er schaute verstört im Laden umher, um auf den anderen Uhren die richtige Uhrzeit abzulesen. Alle zeigten siebzehn Uhr. „Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Zeit eingestellt haben?“, er war peinlich berührt, eine Uhrenexpertin so etwas fragen zu müssen. „Selbstverständlich“, antwortete sie und verlangte das Geld für die Batterie von Robert. Er verließ verstört den Laden. Wie sollte er nun schaffen, noch die Krawatte zu besorgen?

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