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      Vipassana, die Einsichtsmeditation

      Wir werden in zwei Meditationstechniken geschult. Die erste Technik ist Samatha, die Meditation der Geistesruhe, der Konzentration. Mit ihr üben wir, unseren Geist still werden zu lassen. Einige Traditionen vergleichen ihn mit einem See. Ist dieser aufgewühlt, vernebeln Schwebeteilchen sein Wasser und er wird trüb. Es ist dann unmöglich hindurchzuschauen. Kommt das Wasser aber zur Ruhe, setzen sich die Sedimente am Boden ab und er wird klar. Dann ist der Blick frei auf alles, was in ihm verborgen liegt.

      Durch Samatha stabilisieren wir unseren Geist und entwickeln mentale Stärke. Die Gehmeditation zum Beispiel gehört zu dieser Technik. Buddha hat festgestellt, dass sie allein nicht ausreicht, um die angestrebte geistige Befreiung zu erlangen und so ist Vipassana, die Einsichtsmeditation, hinzugekommen. Vipassana bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. So sollen wir durch Samatha innerer Ruhe und Glück erlangen und durch Vipassana zusätzlich auch Weisheit. In der Vipassana Technik machen wir alles, was in unserem Geist, in unserem Körper und auch außerhalb davon erscheint zum Objekt unserer Beobachtung. Achtsam nehmen wir das Entstehen, das Verweilen und das Vorübergehen von allem wahr, was ist. Wir benennen es, aber entgegen unserer Gewohnheit identifizieren wir uns nicht damit. Wir bleiben beobachtender Zeuge.

      Schmerz eignet sich prima als Konzentrationsobjekt. Durch das stundenlange Sitzen, Stehen und selbst während des Gehens meldet sich früher oder später jeder Körper. Dann habe ich die Wahl: verbinde ich mich mit dem Schmerz und lasse zu, dass ich einen Glaubenssatz wie “Ich halte das nicht mehr aus” kreiere oder bleibe ich unbeteiligter Beobachter. Im ersten Fall gebe ich einen Teil meiner Kraft ab und werde es vermutlich wirklich nicht mehr lange aushalten. Beobachte ich den Schmerz aber nur, ohne mich mit ihm zu verbinden und schaffe ich es vielleicht sogar, mich in ihn hinein zu entspannen, kann ich Zeuge werden, wie er einem dynamischen Prozess der Veränderung unterworfen ist. Mal ist er mehr und mal weniger stark spürbar, oft verschwindet er sogar ganz.

      Wenn unser Geist still wird, können gerade zu Beginn unserer Meditationspraxis alte Gefühle und Glaubenssätze aufsteigen. Sie wollen Bestätigung, um sich erneut zu manifestieren und wenn wir nicht achtsam sind, kann es passieren, dass wir uns hier auf dem Meditationskissen noch einmal mit den dunkelsten Stunden unseres Lebens konfrontieren. Manchmal rutschen wir vielleicht sogar in einen Strudel des Selbstzweifels. Jeder in unserer Gruppe durchlebt so seinen eigenen Prozess. Die dabei frei werdenden Kräfte wie Wut, Trauer und Abneigung sind oft deutlich im Raum spürbar. In meinem ersten Retreat bezog ich viele dieser Energien auf mich selbst und fühlte mich in meinem tiefsten Sein von der Gruppe abgelehnt. Ein alter Glaubenssatz eroberte sich seinen angestammten Platz zurück und ich war überzeugt davon, anders zu sein, nicht zu passen und nicht erwünscht zu sein. Das war keine schöne Erfahrung. Sie hat mir aber in vielen Dingen die Augen geöffnet und mir neben den anderen beiden Daseinsmerkmalen allen Seins auch das dritte näher gebracht: Anatta, das Nicht-Selbst, das Nichtvorhandensein eines permanenten und unveränderlichen Wesenskern. Das, was wir als Selbst bezeichnen, ist laut Buddha eine Ansammlung sich ständig wandelnder körperlicher und seelischer Bestandteile. Wenn wir einen dieser Bestandteile als zu uns gehörig ansehen und uns mit ihm identifizieren, kann das zu einer leidvollen Erfahrung führen. Mit zunehmender Übung und viele Jahre später gelingt es mir jetzt immer besser, meine inneren Prozesse richtig einzusortieren und ihnen unbeteiligt beizuwohnen. Mein Körper bekommt dabei etwas diffuses und ich fühle mich wie losgelöst von meiner festen Materie in einem unendlichen Raum innerer Stille und Leichtigkeit. Die Vipassanatechnik öffnet mir dann Türen zu neuen inneren Zimmern, aus denen Klänge, Farben, Gefühle, Bilder und manchmal ganze Filme wie aus einer anderen Welt in mein Bewusstsein dringen. An manchen Tagen steigt in mir ein tiefes Gefühl der Liebe auf, das in Strömen von salzigen Tränen aus mir herausfließt. Aber ich bin dabei nicht traurig, sondern überbordend glücklich. In anderen Momenten beobachte ich den Gedanken, dass ich ewig so sitzen könnte und schon macht sich mit ihm in mir eine Unruhe breit. Diese für mich oft noch unbeherrschbare Kraft lässt mich dann die Augen öffnen und auf die Uhr schauen. Schon ist aller Zauber vorbei. Anicca eben. All dies sind meine persönlichen Erlebnisse und Gedanken zur Vipassana Technik, so, wie ich sie heute gerade verstehe. Auch sie sind in einem ständigen Wandel und je nachdem, wie weit meine eigene Entwicklung voranschreitet, sehe ich die Dinge vielleicht morgen schon etwas anders, als ich sie heute beschreibe.

      

       Ein Tipp

       Beginne deine Meditationspraxis nicht gleich mit einem Marathon. 5 Minuten täglich sind zu Beginn ausreichend. Steigere dich langsam!

       Und probiere es mit einem Lächeln. Wissenschaftliche Untersuchungen haben herausgefunden, dass es bereits ausreicht, dass Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen, damit unser K ö rper gl ücklich machende Botenstoffe ausschüttet. Probier es aus!

      Der Dalai Lama sagt: „Wer alles mit einem Lächeln beginnt, dem wird das meiste gelingen.

      Eine Lehre in Anicca

      Mit den Mönchen leben viele Tiere im Kloster. Einige sind zugelaufen, andere wurden geschenkt. Unter den großen, groben Straßenhunden gibt es auch einen, der im Januar noch nicht hier war. Es ist ein sehr kleiner Hund, der aussieht wie ein Kinderspielzeug. Jeden Abend stürmt er während des Chantens in die große Buddhahalle und bespaßt die Gruppe mit seinem ungestümen Spieltrieb. Greta liebt diesen Hund und spielt mit ihm, wann immer sie kann. An einem Tag zum Ende des Retreats sehe ich sie auf dem Boden einer offenen Halle mit ihm spielen. Eine Weile beobachte ich diese pure Lebensfreude, bis Greta aufsteht, um ihre Trinkflasche in einem anderen Teil des Klostergeländes zu füllen. Der Kleine läuft hinter ihr her und verbellt beiläufig einen der großen Hunde. Ohne dem Gedanken weitere Beachtung zu schenken, weiß ich, dass hinter seinem Kläffen Angst steckt. Doch der kleine Hund wägt sich in Gretas Windschatten sicher und begibt sich in den Große-Hunde-Bereich. Kaum biegt er um die Ecke in das Revier der anderen, macht einer der Großen auch schon Jagd auf ihn. Blitzschnell holt er ihn ein, schnappt ihn am Kragen und schlägt ihn mit Leichtigkeit mehrmals auf den Boden. Es ist mehr ein Schütteln, das in eine Richtung immer wieder gegen die Stabilität des Bodens prallt. Als endlich jemand eingreift, liegt ein regloses Fellknäuel am Boden. Paralysiert stehen wir um den Kleinen herum. Wir können nichts fragen, nichts sagen, nicht helfen. Wir müssen schweigen. Einige weinen still. Seine Augen sind geöffnet und noch voller Glanz. Aber er bewegt sich nicht. Ist er tot? Brutal zeigt uns das Leben, was Anicca, die Impermanenz, noch ist. Das Gesetz von Leben und Tod. Ein kleiner, alter Mönch, von oben bis unten mit Kraftsymbolen tätowiert, hebt ihn sacht auf und trägt ihn zu seinem Häuschen. In seinem Gesicht ist keine emotionale Regung zu erkennen. Schockiert und verstört zerstreut sich unsere Gruppe. Ich beobachte, wie Greta sich schnell vom Tatort entfernt und mache mir Sorgen, wie sie diese brutale Szene verkraftet. Ich folge ihr bis zu den Duschkabinen, wo sie sich eingeschlossen hat. Dann breche ich mein Schweigen und rufe leise: „Greta?“ Aber sie antwortet mir nicht.

      Die Tage vergehen

      Die Tage vergehen in ihrem eng getakteten Ablauf einer wie der andere. Jeder einzelne Tag verläuft genauso, wie der vorherigen und wie der, der noch kommen wird. Schnell verliert sich mein Gefühl für die Zeit und ich weiß schon bald nicht mehr, ob heute Montag, Dienstag oder irgendein anderer Tag ist. Neben meditativem Fegen bietet das Waschen der eigenen Wäsche eine kleine Abwechslung aus der Monotonie und gibt den zehn Tagen eine nachvollziehbare Struktur. Dass Unterhosen regelmäßig gewaschen werden müssen, versteht sich von selbst. Hier in den Tropen droht den Ungewaschenen eine zusätzliche, bei uns gänzlich unbekannte Gefahr. Kakerlaken fühlen sich von ihnen magisch angezogen. Sie kommen nachts aus ihrem Versteck und knabbern kleine Löcher in den Zwickel. Das ist an sich schon keine angenehme Vorstellung. Wenn man aber die Größe der Kakerlaken hier im Kloster in Betracht zieht, bekommt sie einen gruseligen Anstrich. Ich habe zumindest noch nirgendwo größere gesehen. Huscht eine Kakerlake im dämmrigen Abendlicht vorbei, wirft ihr Körper einen mausgroßen Schatten. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie mit einer

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