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Sie immer aktuell und griffbereit zu haben. Für den Fall, dass sie fliehen würde müssen.

      Hannah hatte ihren Rat zwar verstanden, nach allem, was ihre Mutter durchgemacht hatte. Wirklich ernst genommen jedoch hatte sie ihn nicht. Aber jetzt war es gut. Denn so konnte sie bereits nächste Woche nach Wien fliegen. Alles war in bester Ordnung.

      „Pass gut auf dich auf“, hätte Esther gesagt. „Und verlier nicht den Kopf.“

      Als lauere hinter jeder Ecke ein Henker auf der Suche nach Arbeit.

      4

      In jener Nacht hatte Hannah einen Traum.

      Auf einem schneeweißen Lipizzaner ritt sie durch die im goldenen Licht der Straßenlaternen liegenden Gassen einer prächtigen alten Stadt. Neben ihr auf einem zweiten Schimmel saß ein Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte. So sehr sie sich auch bemühte – es blieb verschwommen. Offensichtlich waren sie ein Paar, denn er hielt ihre Hand fest umschlossen, während sie nebeneinander einher trabten. Das Bewegendste aber war: Obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, spürte sie ein unendlich tiefes Urvertrauen in sich. Noch am Morgen danach konnte sie spüren, wie es sich angefühlt hatte: ihre Hand in seiner. Sie hatte das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Alles war unfassbar friedlich. So friedlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

      Zugegeben: Der Traum mochte etwas mit ihren Reisevorbereitungen zu tun haben. Am Abend zuvor hatte sie Meine Lieder, meine Träume gesehen. Ihren Lieblingsfilm, der eigentlich ein amerikanischer Film war und The Sound of Music hieß.

      Der Klang von Musik.

      Dieser Titel gefiel ihr wesentlich besser, aber leider sprach sie nur Spanisch und das österreichisch eingefärbte Deutsch, das sie von ihrer Mutter hatte. In der Schule hatte sie zwar ein bisschen Englisch gelernt, aber das meiste von dem bisschen hatte sie bereits wieder vergessen.

      Von The Sound of Music besaß sie eine DVD. Eigentlich gehörte sie ihrer Mutter, denn es war auch ihr Lieblingsfilm gewesen. Die Trapp-Familie. Manchmal schaute sie sich den Film in seiner Originalversion an, denn die englischen Lieder waren einfach besser. Auch wenn sie nicht alles verstand.

      Von ihrem Klang her jedoch – dem Klang der Musik – kannte sie alle Lieder, die darin vorkamen, in und auswendig. Und ihr Lieblingslied – Edelweiß – konnte sie fehlerfrei mitsingen. Sogar die englische Version.

      Sie musste jedes Mal weinen, wenn sie den Film sah.

      Das war das Gute, wenn man allein war: Man konnte hemmungslos losheulen, wann immer man wollte. Es gab keinen Grund sich zu schämen. Denn niemand war da, der den Tränen beim Trocknen zusehen musste, betreten, betroffen oder peinlich berührt.

      Nach The Sound of Music war Sissi an der Reihe gewesen, der zweite österreichische Film in ihrer nicht gerade neiderregenden Heimkino-Bibliothek, die aus insgesamt nicht mehr als einem Dutzend Filmen bestand, die meisten davon schon ziemlich verstaubt. Märchen von einer besseren Welt und aus einer anderen Zeit. Vielleicht hatte sie deshalb geträumt, sie wäre eine Prinzessin, die an der Seite ihres Prinzen durch das nächtliche Wien reitet.

      Hannah liebte Happy Ends. Möglicherweise umso mehr, weil sie in der Realität so selten in ihrer Familie vorkamen. Weil es offenbar eine genetische Veranlagung in der Familie Goldlaub gab, die von einer Generation auf die nächste übertragen wurde und die dem Unglück Tür und Tor öffnete.

      Es war ihre eigene Stimme, die sie an diesem Morgen weckte. Sie summte, offenbar noch immer unter dem Eindruck des vergangenen Abends, leise die Melodie ihres Lieblingslieds, das die Trapp-Familie angestimmt hatte, kurz bevor sie ihr geliebtes Salzburg zurücklassen muss, das seine edelweiße Weste an die Nazis verloren hat:

      Edelweiss, Edelweiss

      Every morning you greet me

      Small and white,

      Clean and bright,

      You look happy to meet me …

      Wäre ich doch nur ein Blümchen auf dem Gipfel eines Berges, dachte Hannah. Auch sie wollte aufblühen wie ein Edelweiß; sich der Sonnenseite des Lebens entgegenstrecken, und wenn es nur für Tage, Wochen, vielleicht einen Monat war, bevor sie bis zum Bersten aufgetankt mit Glück verblühte. Was hatte sie zu verlieren? Sie wusste nicht, ob ihrer Reise nach Wien ein Happy End vergönnt sein würde – doch wenn sie hier blieb, mit einem nicht mehr lange unsichtbaren kleinen Prinzen oder einer kleinen Prinzessin in ihrem Bauch, würde ihr garantiert kein Happy End beschieden sein. So viel war klar.

      Wenn es stimmte, dass jeder Mensch zumindest einmal in seinem Leben eine Chance bekommt, den Fahrstuhl in das nächsthöhere Stockwerk zu betreten, musste sie einsteigen, bevor sich die Türen wieder schlossen. Ihr Entschluss stand fest: Was auch immer geschah, sie würde die geheimnisvolle Einladung annehmen und nach Wien fliegen. Getragen von den mächtigen Schwingen eines stählernen weißen Feuervogels, der hoch über den Wolken und den Dächern der Welt dort unten dafür sorgte, dass Aschenputtel sicher auf den königlichen Ball gelangte. Wo ihr Prinz bereits auf sie wartete.

      Prinz Maximilian.

      Ja, das klang königlich.

      Moment mal. Was tat sie hier eigentlich? Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war!

      „Wach auf, Hannah!“, rief sie sich selbst kopfschüttelnd zur Ordnung. „Wach-auf!“

      Sie konnte es einfach nicht lassen: Das Träumen.

      Und doch hatte sie das sichere Gefühl, dass schon bald nichts in ihrem Leben mehr so sein würde wie zuvor.

      5

      Das also war der Mann, mit dem sie die Nacht verbringen würde.

      Er hatte volles, silbergraues Haar und trug ein sorgfältig gebügeltes weißes Hemd. Seine Hände waren gepflegt, und zwischen seinem linken Handgelenk und der Hemdmanschette tickte so lautlos wie selbstverständlich eine Schweizer Automatikuhr. Hannah schätzte ihren Sitznachbarn auf etwa siebzig Jahre. Vor ihnen lagen lange Stunden – den Nachtflug von Buenos Aires über Frankfurt nach Wien als eine halbe Weltreise zu bezeichnen, war keinesfalls untertrieben.

      „Ihr erstes Mal?“, fragte der Mann sie, auf Deutsch, und lächelte sie dabei freundlich an.

      Hannah stutzte. Woher... wusste er? Stand ihr etwa auf die Stirn geschrieben, dass sie noch nie zuvor in ihrem Leben in einem Flugzeug gesessen hatte?

      Sie würde vor dem Start noch einmal auf die Toilette gehen müssen, um ihren Verdacht auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Hannah legte den Kopf ein wenig zur Seite und schaute ihn fragend an, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden.

      „Business Class“, fuhr er fort. „Sie fliegen das erste Mal in der Business Class, nicht wahr?“

      Ach, das war es. Sie atmete auf. Er hatte sie lediglich den billigen Plätzen zugerechnet. Das reduzierte sie mit einem Schlag von Volltrottel auf höchstens Halbtrottel.

      Sie nickte schüchtern.

      „Woran... haben Sie das erkannt?“, fragte sie zaghaft.

      „Als die Stewardess Ihnen eben Champagner zur Begrüßung angeboten hat, wollten Sie ihr das Tablett abnehmen.“

      Hannah spürte, wie sie errötete.

      Wie peinlich – er hatte es bemerkt.

      Sie war so daran gewöhnt zu dienen, dass sie im ersten Augenblick reflexartig das Tablett an sich nehmen wollte anstatt eines der darauf in Reih und Glied postierten, mit kühlem, prickelndem Rebensaft gefüllten Gläser.

      „Das muss Ihnen nicht peinlich sein“, erwiderte der ältere Herr. „Im Gegenteil: Es macht Sie sympathisch. Überaus sympathisch. Mein Name ist Peter Jacobs. Ich fliege nach Frankfurt.“

      Er streckte ihr seine gebräunte Hand entgegen.

      „Hannah Goldlaub“, erwiderte sie und ließ ihre Hand in seine gleiten. „Ich fliege nach Wien.“

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