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… bin eine der wenigen Ausnahmen“, gestehe ich.

      „Wie viele Ausnahmen hast du in deiner Zeit dort getroffen?“ Onmmas Augen glitzern und ich glaube mehr zu sehen als bloße Neugier.

      „Eine …“, flüstere ich leise in dem Wissen, dass ihm meine Antwort nicht gefallen wird.

      „Wie viele seid ihr ungefähr?“

      Ich kann ihm keine Zahl nennen, stelle mir den Frühstückssaal vor und erwidere zögerlich: „Tausend, vielleicht.“ Onmma atmet schwer ein und aus und flüstert: „Zwei aus tausend?“

      Höre ich Verzweiflung in seiner sonst so ruhigen und kraftvollen Stimme?

      „Wie bist du entkommen?“, fragt Onmma und ich erwidere wahrheitsgetreu: „Man hat mich gehen lassen.“

      „Man hat dich gehen lassen?“

      Ich kann Onmma den Zweifel in der Stimme nicht vorwerfen und sage: „Cailan hat ein Auge auf mich geworfen. Er … er hat mich gehen lassen, um mich jagen zu können.“

      „Und der Streifschuss an der Schulter war ein Warnschuss“, sagt Onmma und ich nicke. Der ganze Horror schwappt über mich und ich weiß, ich kann nicht das Leben der anderen gefährden.

      „Ich muss heute noch aufbrechen. Ich bin einen Abhang heruntergestürzt und noch so weit gelaufen, wie ich konnte. Es wird dauern, bis er meine Spur wieder aufnehmen kann. Aber er wird nicht aufgeben.“

      „Okay. Aber bleib noch diese Nacht. Am kommenden Morgen kannst du aufbrechen.“

      Ich presse die Lippen aufeinander und nicke.

      „Leg dich hin und schlafe! Du wirst jede Kraftreserve brauchen.“

      „Wo … wo ist mein Rucksack?“, frage ich vorsichtig.

      „Du legst dich schlafen und ich sorge dafür, dass er gefüllt neben dir liegt, wenn du das nächste Mal erwachst.“

      Ich nicke und lege mich an meinen Platz, schließe die Augen und versuche die Frage zu ignorieren, die hinter meiner Schläfe pocht: Wozu werde ich Kraftreserven brauchen? Um Cailan zu entkommen? Selbst wenn es mir gelingen sollte, was erwartet mich da draußen? Meine Gedanken kreisen um sich selbst, bis die Müdigkeit mich einholt und in die erholsame Schwärze herunterzieht.

      Kapitel 05 - Verlorene Wärme

      Wieder weckt mich ein unbekannter Geruch. Ich setze mich vorsichtig auf und stoße mit meiner Hand … gegen meinen Rucksack. Onmma hat Wort gehalten.

      „Ich dachte schon, du verschläfst das Mittagessen. So wertvoll Schlaf auch ist, so nötig ist Nahrung für die Regeneration des Körpers.“

      Ich suche die Person zur Stimme und entdecke Kirril nahe dem Ofen. Er schiebt sich mit der Hand dampfendes Essen in den Mund. Der fremde Geruch ist Essen?

      „Hier! Das ist deine Portion. Onmma hat sie einfach aus den Anteil der anderen genommen. Es ist Reis mit Ziegenfleisch in einer würzigen Soße. Die Einheimischen sagen Dal Bhat dazu. Ich habe für dich einen Löffel auftreiben können. Hier isst man normalerweise mit der Hand.“

      Ich nicke dankend und mein Magen schreit nach Essen. Eilig befreie ich mich aus der Decke und robbe zu der warmen Mahlzeit, so gut es mit einer Hand eben geht. Ich will vorsichtig sein, mich herantasten. Doch stattdessen falle ich darüber her wie ein Tier, stopfe den warmen Reis mitsamt dem Fleisch in den Mund und ersticke fast, als ich versuche alles zu schlucken.

      Kirril lacht mich aus, reicht mir eine Flasche und ich gieße schnell nach. Husten schüttelt mich und es dauert, bis sich meine Atmung beruhigt hat und ich darüber nachdenken kann, wieder etwas zu essen.

      „Niemand macht dir deine Portion streitig. Du kannst in aller Ruhe essen.“

      Ein Schmunzeln in seiner Stimme lacht mich aus und meine Wangen brennen. Ich versuche mich zu zügeln und das Essen zu genießen. Der Geschmack ist neu. Ich erinnere mich nicht daran, dass wir jemals Fleisch in der Anstalt bekommen haben.

      „Wie … wie ist es in dem Refugium? Behandeln sie euch gut?“, fragt Kirril nach einer Weile zögerlich.

      Ich schlucke das herunter, was es in meine Mund geschafft hat und denke laut nach: „Sie … kümmern sich um uns. Wir bekommen zu essen, wir frieren nicht. Für alles ist gesorgt. Regelmäßiger Unterricht richtet sich nach unseren Bedürfnissen. Wir leben in Gruppen. In jeder Gruppe sind zwölf Mädchen oder Frauen.“

      „Das hört sich doch gar nicht schlecht an. Warum bist du geflohen?“, fragt Kirril.

      „Ich … ich wurde hinausgejagt, von jemandem, den ich in der Vergangenheit verletzt habe“, sage ich vorsichtig.

      „Würdest du denn zurück wollen? In die Anstalt meine ich. Wenn du die Wahl hättest.“

      Ich denke über Kirrils Worte nach und schüttele den Kopf, finde in mir die Antwort, die ich gesucht habe.

      „Ich möchte die Welt sehen, die außerhalb dem Glas liegt. Ich möchte herausfinden, wer ich war und wer ich jetzt bin.“

      „Ist das nicht dieselbe Person?“, fragt Kirril leise.

      „Ich weiß es nicht“, sage ich laut und hoffe, dass es nicht so ist. Dass ich jemand anderes sein kann, als eine verurteilte Mörderin.

      „Was würde mit dir passieren, wenn sie dich zurückbringen?“ Kirrils Augen und Ohren saugen hungrig alles an Information in sich auf, was ich ihm gebe. Kann es bloße Neugier sein? Interesse an einem Leben, das so anders ist als das hier?

      „Man wird mir vermutlich die Erinnerungen nehmen und versuchen mich wieder ins System zu integrieren.“ … Wenn Cailan mich nicht vorher tötet. Meine Gedanken wandern zu Dannies leeren Augen und ich schließe meine Lider.

      „Du bist sicher noch müde, ich lasse dich schlafen. In fünf Stunden gibt es Abendessen“, sagt Kirril und erhebt sich.

      Ich flüstere ein Danke und denke darüber nach, ob die Männer hier nichts weiter machen als schlafen und essen. Und selbst wenn, wäre das so schlimm? Was müsste es mehr geben? Was könnte es mehr geben? Onmma hat von Familie gesprochen. Die Männer hier haben keine. Sie verstecken sich vor einem System, das mir die Erinnerungen genommen hat. Die Erinnerungen an einen Mord. Ich zucke unter dem Gedanken zusammen und liege einfach nur mit geschlossenen Augen da, gehe auf in dem Schmerz meiner Schulter und meiner Beine.

      Heißt leben leiden? Schmerzen ertragen, den Hunger stillen … schlafen?

      Als die Sonne langsam untergeht, kommen die Männer wieder ins Haus. Sie zünden den Ofen an. Ich sitze in einer Ecke und versuche unsichtbar zu werden. Ab und an wirft man mir einen seltsamen Blick zu. Doch ansonsten ignorieren mich die Männer. Ich studiere ihre Bewegungen, ihre Mimik. Sie sind so anders als die neugeborenen Frauen, als Mutter Sunshine.

      Sie sind grob zueinander. Lachen laut, rülpsen und beleidigen sich am laufenden Band. Sie sind anders als Cailan. Ich denke an seine dunklen Augen, die sich in mich fressen, erinnere mich an die sanften Berührungen, von denen ich mir mehr gewünscht habe. Doch alles, was Cailan in sich trägt, alles, was er mir geben kann, ist Hass. Gerechtfertigter Hass.

      Meine Augen finden Kirril, der um einen Baumstamm mit anderen Männern sitzt. Sie lachen, werfen Würfel, klopfen sich auf die Schultern und Gegenstände wechseln ihren Besitzer. Ein Wort kommt mir zugeflogen: Glücksspiel. Die Männer spielen um das Bisschen, das sie besitzen … für die kleine Chance, mehr zu besitzen? Ich verstehe es nicht wirklich und bin doch fasziniert von all den Gefühlen, die über die Gesichter tanzen. Freude, Ärger, Belustigung, kurz aufwallende Wut, Schadenfreude, … die Gefühle wechseln sich so schnell ab, dass ich ihnen nicht folgen kann.

      Es ist befremdlich. Es macht mir Angst. Und doch kann ich nicht genug davon bekommen, kann meine Augen nur von einem Gesicht zum nächsten tanzen lassen.

      „Sie sind grob, ungehobelt und haben keine Manieren.

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