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– als eine „Verbrüderung gläubiger Männer zu einem gemeinsamen Wirken für das Reich Gottes unter Kindern oder Erwachsenen, unter Armen, Elenden, Verlassenen, Verirrten oder Verlorenen. Er nannte sie eine Familie, die aus dem Geiste der evangelischen Kirche geboren, in ihr und in ihrem Geiste und für sie in Werken der Barmherzigkeit ihren Beruf und ihre Arbeit in Gottes Namen zu erfüllen trachtet ("Die Brüder des Rauhen Hauses" (1856); SW 4/II S. 200).“

      Die Brüder des Rauhen Hauses waren die erste, aber nicht die einzige Diakonengemeinschaft des frühen 19.Jahrhunderts. Brüderhäuser gab es u. a. in Beugen (Baden), Lichtenstern (Württemberg), Duisburg, Düsselthal, Neinstedt (Sachsen-Anhalt) und Zülchow bei Stettin. Einige nannten sich "Diakonenanstalten" - wie z. B. Düsselthal. Wichern lehnte diese wie auch die Bezeichnung "Diakonissenanstalt" für die sich damals parallel bildenden Schwesterngemeinschaften ab. Er sprach lieber von Brüder- und Schwesternhäusern. Denn die Gemeinschaften sind nicht, wie vielfach angenommen wird, auf die schon der apostolischen Kirche angehörige Institution der Diakonen und Diakonissen zurück zu führen. „Vielmehr hat in ihnen die evangelische Kirche in ganz neuer, rein evangelischer Art den zur Zeit der Reformation abgerissenen Faden der kirchlichen Korporationen, Orden und Stifte für praktische Liebeszwecke zum Besten von Kinder, Armen, Kranken, Verlassenen, Gefangenen usw. wieder aufgenommen ("Diakonen- und Diakonissenhäuser" (1855) SW 3/I S. 76).“

       Diakonie: Freiwilliger Liebesdienst

      Wichern sprach damit einen aus der Sicht eines erwecklichen Theologen wunden Punkt der Reformation an. Sie hat Orden und Klöster aufgelöst, aber den freiwillig ausgeübten Liebesdienst der Mönche und Nonnen nicht fortgesetzt. An die Stelle frommer Stifte und Einrichtungen traten städtische, weithin bürgerliche Kollegien. Die meisten im Zuge der Reformation entstandenen Kirchenordnungen machten das Armenwesen zu einer öffentlichen Aufgabe. Wichern nennt das einen geschichtlichen Zufall und kritisiert: „Die bloß bürgerliche Berufung und bloß bürgerlich festgestellte Befähigung aber zu Diensten, die wesentlich der freiwilligen Aufopferung angehören, enthält keine Garantie für die Geltendmachung oder Wahrheit der religiösen Gesinnung ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 77).“

      Dieses Zitat enthält zwei Schlüsselgedankens Wicherns: Die Armenpflege ist nicht allein eine öffentliche Aufgabe, sondern auch ein, im Glauben freiwillig erbrachter Liebesdienst. Dieser wiederum gibt Zeugnis vom Glauben. Entsprechend sind Freiwilligkeit und Glaubenszeugnis konstitutiv für alle, den abgeschnittenen Faden der Reformation wieder aufnehmenden kirchliche Verbrüderungen zu praktischen Zwecken. Brüderhäuser, definiert Wichern, „sind keine christlichen Bildungsanstalten in dem Sinne, als ob darin junge Leute erst zum Christentum erzogen werden sollen, sondern der Eintritt setzt diese lebendige Glaubensgesinnung voraus und baut auf diesem Grunde weiter durch Vertiefung des Glaubenslebens und Erweiterung der theoretischen und praktischen Tüchtigkeit.“ Die „zur Arbeit, Vorbereitung und Entsendung rezipierten Jünglinge“ nennen sich Brüder, weil ihre Gemeinschaft „in der Gemeinschaft des lebendigen Glaubens an Christum“ beruht und in der „Gleichheit und Einheit brüderlicher Liebe“ wurzelt ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 85).

       Genossenschaft der Liebe

      Wicherns Konzeption eines Diakonenhauses als einer dezidiert christlichen, dem Liebesdienst verpflichteten Genossenschaft reanimiert also die in der Reformation abgebrochene korporative Übung christlicher Liebeswerke ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 91). In der Brüderanstalt sah er den eigentlichen Nerv des Rauhen Hauses ("Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Hause", 1839; SW 4/I S.197. Zu Wicherns Zeiten waren im Rauhen Haus auch Frauen tätig, die die Mädchen betreuten. Diese Gehilfinnen wurden selbstverständlich Schwestern, SW 4/II S.186, genannt, kamen freilich nie zu derselben Bedeutung wie die Brüder. 1886 wurde die Mädchenarbeit nach Eppendorf auf die Anscharhöhe verlagert.). In ihr fallen die Rettungsarbeit der Stiftung und der freiwillige Liebesdienst von Christen in der Form des Lebensberufs zusammen: „Der Bruder kommt ins Brüderhaus, um sein Leben und sein Lieben im Bunde mit Brüdern für das Reich Gottes einzusetzen, hier zunächst unter Kindern, deren das Reich Gottes ist, und später an denjenigen Arbeitsstellen, in die er gerufen und entsandt werden wird. In diesem Geiste tritt der Aufgenommene nach bestandener Prüfungszeit in die Gemeinschaft der Brüder als deren Genosse ein ("Die Brüder des Rauhen Hauses (1856)"; SW 4/II 201).“

      Der Genossenschaft konnten nicht nur ausgebildete Gehilfen sondern auch Privatleute angehören, die persönlich und lebenslang den Armen in kirchlichem Geist mit der Liebe Christi dienen wollten. Man nannte sie Freibrüder, weil sie dem Sendungsprinzip des Brüderhauses nicht unterworfen waren. Unter den Freibrüdern der Wichernzeit finden wir z.B. ehemalige Zöglinge, im Rauhen Haus zeitweise als Oberhelfer beschäftigte Theologen, sonstige Mitarbeiter oder Freunde des Rauhen Hauses. Insofern kann man bei der Bruderschaft des Rauhen Haus der Wichernzeit (noch) nicht von einer "Diakonengemeinschaft", geschweige von einem berufsverbandsähnlichen Zusammenschluß sprechen. Wichern spricht lieber von einer Genossenschaft, häufiger noch von einer um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt, in brüderlicher Gemeinschaft gesammelten Familie. In der Ordnung der Brüderschaft von 1858 heißt es: Sinn und Zweck dieser Familie ist es, „dem Herrn in seiner evangelischen Kirche...zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserem Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Wortes und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt, und an welcher der Herr einst (Matth. 25,40) die Seinen erkennen wird ("Die Ordnungen der Brüderschaft des Rauhen Hauses von 1858"; SW 4/II S. 225).“

      Wicherns Konzeption weist auf die Klöster- und Ordensgemeinschaften sowie geistlichen Kooperationen des Mittelalters zurück, die sich oft einer bestimmten kirchlichen Aufgabe gewidmet haben und daraus u.a. auch ihr spirituelles Profil bezogen. So gab es Krankenpflegekommunitäten, Schul- oder Predigerorden. In diesem Kontext ist auch das Selbstverständnis der Rauhäusler Brüder als Dienstleute der inneren Mission und als Anwälte der Armen zu verstehen.

       Vom Brüderhaus zur Diakonenanstalt: Die Diakonatsdiskussion

      Um 1850 gab es in Deutschland bereits sieben Brüderhäuser Wichern’scher Prägung. Weitere kamen im Laufe der Zeit hinzu. Parallel zu den Brüderhäusern entstanden Diakonissenanstalten mit einer ähnlichen Ausrichtung. Alle entstammten der privaten Initiative evangelischer Vereine oder Anstalten der inneren Mission. Auf ihre missionarischen und sozialen Aktivitäten geht zurück, dass man sich in den damaligen Landeskirchen nach und nach über die Erneuerung des altkirchlichen Diakonenamtes Gedanken machte. An vorderster Stelle stand dabei die preußische Kirchenregierung, die eine Denkschrift zu dem Thema veröffentlichte und Johann Hinrich Wichern um ein Gutachten dazu bat. In seinem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat aus dem Jahre 1856 (SW 3/I S. 131-184) plädiert Wichern dafür, in der evangelischen Kirche das Diakonenamt über die reformierte Praxis ehrenamtlicher, Diakone genannte Kirchenpfleger hinaus, als einen hauptamtlichen Dienst einzuführen (Vgl. zum folgenden: Wilfried Brandt, Das Amt der Diakonin und des Diakons in der evangelischen Kirche; Referat vor der Synode des evangelischen Kirchenbezirks Waiblingen am 16.März 2001). Die Gemeinden sollten eine Doppelspitze haben: Das Predigtamt, das den Glauben weckt und stärkt, und das Diakonenamt, das der Liebestätigkeit der Gläubigen Gestalt gibt. Die Diakone sollten eine professionelle biblische und fachliche Ausbildung erhalten. Sie sollten den Gemeindegliedern nicht die Arbeit der Nächstenliebe abnehmen, sondern diese vielmehr anregen und die kirchliche Diakonie organisieren.

       Die Brüder und das Diakonenamt

      Wer sollte zum Diakon berufen (ordiniert) werden? Nach Wichern jeder, der charakterlich und fachlich geeignet sowie entsprechend ausgebildet ist. Das können Theologen, auch Handwerker, Juristen oder Ärzte, gegebenenfalls auch im Rauhen Haus ausgebildete Brüder sein. Diese gleichsam automatisch als Diakone anzusehen, weigerte sich Wichern jedoch beharrlich. Für ihn lag der springende Punkt beim Diakonenamt darin, dass es keine Privatangelegenheit eines diakonischen Vereins sondern eine Einrichtung der Kirche ist. Wen sie in das Diakonenamt beruft, ist genuin ihre Entscheidung und fällt nicht in die Kompetenz freier christlicher Assoziationen. Im übrigen sah Wichern den Aktionsradius des Diakonenamtes wesentlich auf die Kirche beschränkt. Die Brüder als karitative Genossenschaft dagegen sollten in der bürgerlichen (staatlichen), in der kirchlichen

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