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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
Читать онлайн.Название Herausforderungen der Wirtschaftspolitik
Год выпуска 0
isbn 9783846357910
Автор произведения Dirk Linowski
Жанр Зарубежная деловая литература
Издательство Bookwire
In Deutschland waren seit dem Jahr 2010 recht stabil ca. drei Viertel der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig, wobei die Gesamtbeschäftigung in dieser Dekade mit der Bevölkerung von 41,1 Mio. auf ein Allzeithoch von 45,3 Mio. im Jahr 2019 wuchs (die geleisteten Erwebsstunden pro Beschäftigten und die Quote der Selbstständigen waren dabei seit 2012 leicht rückläufig).
Der Dienstleistungssektor umfasst Tätigkeiten, die Leistungen im sogenannten tertiären Wirtschaftssektor erbringen. Dazu zählen u.a. Buchhalter und Leichenbestatter, Kellner und Wirtschaftsprüfer, Polizisten und Krankenpfleger9 und grundsätzlich alle Dienstleistungen, die im öffentlichen Sektor erbracht werden. Es ist weitgehend deterministisch absehbar, dass Berufe, die auf persönlichem Kontakt beruhen, sich zumindest verändern werden bzw. dass „nach der Krise“ insbesondere in niedrig bezahlten Tätigkeiten wie im Hotel-, Gaststätten- und Tourismusgewerbe – also dort, wo enger persönlicher Kontakt nicht zu vermeiden ist – weniger Menschen tätig sein werden als zuvor. Vor allzuviel Optimismus der Hochschulabsolventen muss hier allerdings deutlich gewarnt werden! Empfohlen sei an dieser Stelle die Lektüre des Vater-und-Sohn-Buches von Richard und David Susskind aus dem Jahre 2017 „The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts“, in dem mögliche zukünftige Auswirkungen der DigitalisierungDigitalisierung auf Anwälte, Lehrer und Professoren, Architekten, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer und einige weitere freie Berufe besprochen werden. Die Verfasser stellen dabei fest, dass fast alle Interviewpartner und Leser den Grundthesen des Buches zustimmten, aber gleichzeitig verneinten, selbst substanziell von der Digitalisierung betroffen zu sein. Es lohnt sich somit sehr, darüber nachzudenken, warum z.B. Ärzte glauben, dass Steuerberater im Gegensatz zu sich selbst einem rabiaten technologischen Wandel unterworfen sein werden und umgekehrt. Kognitionspsychologen verwenden hier den Begriff confirmation bias: Menschen nehmen bevorzugt Informationen auf, die ihre vorgefasste Meinung bestätigen bzw. ihre Erwartungen erfüllen. Anders ausgedrückt: Intelligenz und Bildung begünstigen a priori weder Erkenntnisfähigkeit noch die Fähigkeit zur Selbstkritik, sondern sie verstärken (wenn auch nicht immer) oft eigene Vorurteile.
Status quo
Deutschland stand zu Beginn des Jahres 2020 im internationalen Vergleich wirtschaftlich sowohl absolut als auch relativ gut da. Die vielgeschmähte Schwarze Null sorgte dafür, dass die Kassen der öffentlichen Hand und der meisten Sozialversicherungsträger gut gefüllt waren. Die ArbeitslosigkeitArbeitslosigkeit war im internationalen Vergleich gering, ProduktivitätProduktivität und Beschäftigungsquote befanden sich auf hohem Niveau.
Tatsächlich war bereits Jahre vor der Corona-Krise in der Mitte der deutschen Gesellschaft eine tiefe Verunsicherung zu konstatieren, gepaart mit sozialen Abstiegsängsten der Mittelschicht. Dabei stellte die seit Sommer 2015 virulente Flüchtlingskrise in vielerlei Hinsicht einen Kristallisationspunkt dar, dies verbunden mit Fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir und unsere Kinder zukünftig leben wollen. Blicke zu unseren europäischen Nachbarn (Stichwort u.a. Gelbwesten in Frankreich) zeigen uns, dass wir mit dieser Unsicherheit nicht allein sind.
Bereits seit Beginn der 2010er Jahre mehren sich die Stimmen aus Wissenschaft und Medien, die die deutsche Gesellschaft vor zu viel Selbstgefälligkeit warnen und die – innerhalb von weniger als zwei Generationen – eine mehr oder weniger düstere Zukunft für unser Land zeichnen. Dabei hatten die „Entzauberung des Sommermärchens“10 und der seit Herbst 2015 andauernde und noch immer nicht vollständig bewältigte Abgasskandal, in den die deutschen „Vorzeigefirmen“ Volkswagen und Daimler verstrickt sind, sehr sicher die Qualitäten von Brandbeschleunigern. Nach etwa 25 Jahren relativer Ruhe in Europa befinden wir uns in zahlreichen Debatten bis hin zur Abschaffung des Bargelds, die vor allem eines zeigen: einen Mangel an Orientierung.
Mehr geistige Vielfalt! Mehr Streit!
Die Gesellschaft, also wir alle und am besten jeder selbst zuerst, wird kluge Gedanken brauchen, um zu erkennen, wie zukünftig die Wertschöpfung der Gesellschaft und die Verteilung des Wohlstandes beschaffen sein sollten.11
Damit verbunden sein werden Forderungen von Zwangsenteignungen Superreicher (was auch immer superreich bedeutet), der Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (von dem Dutzende sich stark unterscheidende Versionen kursieren) und hoffentlich davor eine in Breite und Tiefe qualifizierte Diskussion, die sich zentralen Fragen unseres Gemeinwesens widmet. Dazu werden die Rolle des Staates und damit verbunden die von der am University College London tätigen Ökonomin Mariana Mazzucato wieder gestellte alte Frage „Wie kommt der Wert in die Welt?“12 gehören müssen.
Hier ist zu hoffen, dass wir in Zukunft mehr geistige Vielfalt und echte konstruktive Diskussion erleben werden. Aus den Universitäten, nicht nur in Deutschland, kam hier in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig Nützliches oder gar Innovatives. Dies ist leicht erklärbar, da junge Nachwuchswissenschaftler für „Außenseitertheorien“ keine Fachzeitschriften zur Publikation finden, i.a. keine externen Finanzmittel (Drittmittel) erschließen und damit auch keine Karriere machen (mehr dazu in Kapitel 4).
Das für den Verfasser dieses Textes schlagendste Argument für die Behauptung, dass sich die Ökonomie, die bei aller Mathematisierung eine Sozialwissenschaft ist, aktuell in keinem guten Zustand befindet, ist empirisch begründet: Sowohl in Chicago als auch in Frankfurt, Riga, Ulaan Bator und Shanghai sind die verbindlichen Lehrwerke der Volkswirtschaftlehre zumeist die beiden (guten!) Bücher „Macroeconomics“ und „Economics“ von Gregory Mankiw. Mit anderen Worten: Von Chigaco über Frankfurt nach Shanghai werden die Studenten der Volkswirtschaftslehre auf eine fast identische – und damit notwendigerweise beschränkte – Art und Weise ausgebildet bzw. geprägt.
Tatsächlich traf der Ausbruch der FinanzkriseFinanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 und ihr anfänglicher Verlauf die weltweite Community der Volkswirte völlig unvorbereitet: Weder wurde die Finanzkrise von namhaften Experten vorhergesagt noch waren Notfallpläne verfügbar; die Politik – in Deutschland die Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück – musste sich allein „durchkämpfen“. Nicht überraschend hat dies die Wertschätzung der Volkswirtschaftlehre nicht nur bei Kanzlerin Angela Merkel nachhaltig geprägt.
Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung zur akademischen „Monokultur“ – zu Problemen mit Monokulturen informieren Sie sich dort, wo sie herkommen: aus der Landwirtschaft – haben die großen amerikanischen Lehrbuchverlage, die ihre Ableger in allen hinreichend großen Märkten von Deutschland bis China haben. Hochschullehrer erhalten Freiexemplare von Büchern (von denen natürlich erwartet wird, dass sie den Studenten empfohlen werden) und dazu werden – für den Hochschullehrer natürlich kostenfrei – zusätzliche Materialien wie Powerpointpräsentationen, Übungsaufgaben mit Lösungen und didaktische Hinweise gestellt. Dies ist übrigens keine Klage oder gar eine Anklage der Verlage. Deren Geschäftsmodell funktioniert nur, weil es an den Universitäten genug Leute gibt, die sich gern bei ihrer Arbeit „helfen“ lassen. Wie es zu dieser „Monokultur“ kommen konnte und warum u.a. die Encyclopaedia Britannica und der Brockhaus praktisch verschwunden sind, wird in den Kapiteln 4 und 11 mit Verweis auf die elementaren Prinzipien der Kostentheorie erörtert.
In den vergangenen Jahrzehnten ist auf fast allen Ebenen der westlichen Gesellschaften die Fähigkeit zum konstruktiven Streit weitgehend verloren gegangen. Zudem geriet die Methode der Dialektik (hier im Sinne des Lösens von Gegensätzen im Denken) fast völlig in Vergessenheit.
Wir müssen somit auch noch verstehen lernen, dass Wissen nicht nur geschaffen wird, sondern dass es auch verloren geht.13 Dass genau dies nicht flächendeckend geschieht, ist Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenwissenschaften, wollen sie eine Existenzberechtigung bewahren.
Eine echte Diskussion muss schlussendlich nicht mit einer „Einheitsmeinung“ enden: Zwei der ganz Großen der ökonomischen Zunft, John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek, vertraten zeitlebens unterschiedliche