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Curriculum Prothetik. Jörg R. Strub
Читать онлайн.Название Curriculum Prothetik
Год выпуска 0
isbn 9783868676143
Автор произведения Jörg R. Strub
Жанр Медицина
Серия Band
Издательство Bookwire
Zwei aktuelle Funde aus Grand-Saconnex, Genf, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts demonstrieren, dass die Zahnersatzkunst der Antike bis dato noch immer Anwendung fand (Alt 1993). Im Einzelnen finden sich Drahtligaturen zum Schienen parodontal insuffizienter Frontzähne, primitiver, aus Tierzähnen geschnitzter Brückenersatz, der mit Golddraht an Nachbarzähnen befestigt war, sowie eine große, aus einem Stück geschnitzte Prothese, die ebenfalls an den Nachbarzähnen mit Golddraht befestigt wurde. Diese Beispiele für Zahnersatz, zur Zeit des Wirkens eines P. Fauchard in Paris angefertigt, verdeutlichen, dass sich Neuerungen vermutlich nicht so rasch durchsetzen konnten (Abb. 1-13a bis d).
Abb. 1-13 Fund aus Grand-Saconnex, Genf, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (Alt 1993): a Schienung mehrerer Frontzähne im Oberkiefer mit Golddraht; b Geschnitzter Brückenersatz aus Tierzahnmaterial zum Ersatz der Zähne 34, 35 und 36; mit Golddraht an den Pfeilerzähnen 33 und 37 befestigt; c Prothese aus Elfenbein zum Ersatz von 9 Zähnen; mit Golddraht an den Pfeilerzähnen 43 und 38 befestigt; d Elfenbeinbrücke für den linken Frontzahnbogen im Oberkiefer.
Einen ausgezeichneten Einblick in jene Zeit, als sich in den großen Städten Europas die ersten „Zahnärzte“ niederließen und um „Patienten“ wetteiferten, liefern von D. Cubitt (1992) veröffentlichte Zeitungsanzeigen, mit denen „Zahnärzte“ aus Norwich, England, für ihre Arbeit werben. „This is to inform the public that Mr. William Turner, Whitesmith, in St. Margaret’s Parish in Norwich, makes all sorts of surgeon’s instruments, as well as in London, and much cheaper [sic], viz. cauteries of all kinds, and all instruments for the teeth. Also makes artificial teeth, either single or doubles; and fixes them in so nicely, that they are not to be distinguished from the real (as several persons will attest, if called upon) either for sight or service: those who have made trail are able to eat, and perform with them that natural teeth can inable them to do. N.B. He makes trusses of all sorts, and to any pattern.“ (Norwich Gazette, Samstag 1. Juni, 1745).
Und von einem weiteren Zahnheilkundigen heißt es: „Agabus Molden, operator for the teeth, in St. Mary’s in Norwich, cleans teeth so as to cause the gums to grow up; which used in time, it a means to preventing their aching and decay. He taketh out stumps be they ever so decayed, or broken in unskilful pretenders. He also displaces teeth, after the best and most easie method. N.B. His wife also cuts hair for women, better than any one in town.“ (Norwich Gazette, 13. und 27 Februar, 1731).
Es hat den Anschein, dass sich im frühen 18. Jahrhundert in den Städten die Keimzelle der heute niedergelassenen Zahnärzte etabliert. Es gelingt ihr, sich gegen die Konkurrenz der Bader, Barbiere und Zahnbrecher durchzusetzen, allerdings war es im Unterschied zur Gegenwart damals noch erlaubt, für seine Fertigkeiten und Dienstleistungen öffentlich zu werben, was in der schwierigen Anfangszeit sicher auch notwendig war. Trotz anders lautender Beteuerungen befand man sich zahnprothetisch jedoch immer noch auf dem technischen Stand der Antike, da sich bei den meisten historischen Fundstücken kein wesentlicher technischer Fortschritt erkennen lässt (Czarnetzki und Alt 1991, Alt 1994a, Valentin und Granat 1997). Dass fast alle Funde bei Ausgrabungen in Kirchen zutage kamen ist ein Beleg dafür, dass sich nur die dort bestattete soziale Oberschicht derartigen Luxus leisten konnte. Bei 987 Bestattungen des Spitalfields in London fanden Whittaker und Hargreaves (1991) nur in 9 Fällen Zahnersatz, der teils aus Elfenbein, teils aus Gold besteht. Gelegentlich lässt sich sogar die Identität der Bestatteten anhand von Grabinschriften und Schriftquellen klären (Alt 1993, Whittaker und Hargreaves 1991).
Die allmählich einsetzende, allgemeine staatliche Anerkennung der Zahnheilkundigen und die Möglichkeit, als Stadtzahnarzt zu praktizieren, trugen in Mitteleuropa nicht unwesentlich zum Wechsel vom „Zahnkünstler“ zum Zahnarzt bei. Ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung einer wissenschaftlichen Fachdisziplin bedeutet die Ausgrenzung der zahnärztlichen Prothetik aus dem Handwerk. Damit verlagert sich im 19. Jahrhundert die Herstellung von Zahnersatz aus dem handwerklich-künstlerischen Gewerbe in einen speziellen, zahntechnischen Bereich, der bis Mitte des 20. Jahrhunderts von den Zahnärzten zum Teil selbst abgedeckt wird, sich heute aber, zumindest in den Industrieländern, berufsmäßig weitgehend von der Zahnmedizin getrennt hat. Wenngleich die Konstruktionsprinzipien für Zahnersatz seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen feststehen, nimmt, wie in den Jahrhunderten zuvor, auch in der unmittelbaren Gegenwart die Entwicklung neuer Materialien und innovativer Behandlungskonzepte immer wieder wesentlichen Einfluss auf die Weiterentwicklung der zahnärztlichen Prothetik. „Geschichte der Zahnheilkunde ist zu einem wesentlichen Teil auch immer eine Geschichte der Instrumente und Werkstoffe unter Berücksichtigung technologischer Entwicklungen“ beschreibt Wolfgang Strübig (1989) die Abhängigkeit der Fachgeschichte von der generellen technischen Entwicklung (Braun 1978).
Eine entscheidende Erfindung war Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Entdeckung und Weiterentwicklung eines anorganischen Grundstoffs, der sich als Basismaterial für Zahnersatz eignete. 1774 ließ sich der Pariser Apotheker F. T. Duchateau (1751–1829) für sich selbst ein Gebiss aus Porzellan brennen. Nach diesem Rezept brachte der Pariser Zahnarzt N. D. de Chémant (1753–1824) 1788 die erste Mineralpaste für Zahnersatz auf den Markt. Aufgrund der bei der Herstellung auftretenden Schrumpfungen, die die Passgenauigkeit stark beeinträchtigten, führten die in einem Stück gebrannten Porzellangebisse zu massiven Druckstellen, waren bruchanfällig und klapperten. Trotz dieser Mängel scheint die Popularität der Gebisse, für die mit den Schlagworten „geruchlos und unverweslich“ geworben wurde, groß gewesen zu sein, wie plakative Karikaturen von Porzellangebissträgern vermuten lassen. Die in einem Stück gebrannten Porzellanprothesen ließen sich durch die Verwendung von Metalloxiden in verschiedenen Farben tönen.
Dem Italiener G. Fonzi (1768–1840) gelang 1808 die Entwicklung einer Methode zur Herstellung von Einzelzähnen mit eingebrannten Platinstiften (sog. Crampons). Damit war der entscheidende Schritt zum neuzeitlichen Zahnersatz getan, denn nunmehr konnte man Basis und Zähne getrennt herstellen. Die industrielle Produktion von Mineralzähnen begann 1825 in Amerika durch S. W. Stockton (1800–1872), ab 1844 auch durch die noch heute bestehende Firma S. S. White Corporation. Obwohl nun verschiedene Varianten von Industriezähnen zur Verfügung standen, wie die Röhrenzähne des Engländers C. Ash (1815–1892), die einen zentralen Kanal zur Verankerung eines Stifts hatten, oder die sogenannten Blockzähne („continuous gums“) von J. Allen (1810–1892), drei zusammengefasste Frontzähne mit angrenzendem Zahnfleisch, wurden noch bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus weiterhin menschliche Zähne und Zahnbein von Tieren für Zahnersatz verwendet.
Ohne die Entwicklung der Bohrmaschine zum Aufbohren von Kavitäten und zum Beschleifen von Zähnen wären die technischen Möglichkeiten für Zahnersatz und zum Füllen von Zähnen jedoch wenig erfolgreich geblieben (Schuh 1937). Zwar ist die Verwendung von Fiedel- oder Drillbohrern schon aus der jüngeren Steinzeit bekannt, wo bereits Zähne mit Feuersteinbohrern trepaniert wurden (vgl. Alt 1989, Bennike