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bemerkt hatte, weil sowieso alle Türen mit Motorrollern und sonstigen Fahrzeugen zugestellt sind. Zum Beispiel das Recreation Center, geschmackvoll eingerichtet mit Bücherregalen, bequemen Sofas, einfach so, um sich zwischendurch auszuruhen, finanziert von der Stadt. Oder die Nachbarschaftshilfe, die in Quarantänezeiten dafür zuständig ist, dass die Leute mit den notwendigsten Nahrungsmitteln versorgt werden. Ein Schreibwarengeschäft, ein Hot-Pot-Restaurant. Dafür schloss zur selben Zeit plötzlich das Café an der Ecke. Dann wieder war die Hälfte der Läden geschlossen, weil das Drachenbootfestival im Juni gefeiert wurde.

      Abschied nehmen heißt es von den kleinen Dingen im Alltag. Der Architekturkritiker Vittorio Lampugnani nennt sie Objekte des Stadtraums, die benutzt, nicht ausgestellt werden und eigene Geschichten erzählen. Tatsächlich stellt sich Taiwan und auch Taipei an nur wenigen Orten selbst aus, verspürt offenbar selten den Drang, sich in Architektur, in pompös angelegten Plätzen und Boulevards zu repräsentieren, wenngleich das nicht immer so war. Die Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle ist trotz der historischen Assoziationen, die man mit diesem einstigen erbitterten Gegner Mao Zedongs und späteren Alleinherrscher Taiwans verbindet, eindrucksvoll, vor allem nachts, wenn sich junge Menschen unter den Dächern zwischen den roten Säulen des Nationaltheaters und der Philharmonie treffen, um zu neuesten Rhythmen anspruchsvolle Choreografien einzuüben. Oder wenn das blaue Ziegeldach der Gedenkhalle in einer Vollmondnacht aufscheint, dahinter das höchste Gebäude der Stadt, das Taipei 101. Oder gegenüber das marmorglänzende Tor der »Großen Mitte und Aufrichtigkeit«. Sind es Heterotopien nach Michel Foucault, Orte, die in die Gesellschaft eingeschrieben und heute trotz ihrer erdrückenden Geschichte in den Alltag integriert sind, als hätte der, dem die Gedenkhalle gewidmet ist, nie ein Volk in einer vierzig Jahre andauernden Militärdiktatur darben lassen? Die Vereinnahme durch jugendliche Tänzer und mittelalte Schattenboxer ist eine Umwidmung des Ortes, die mich bei jedem Besuch von Neuem fasziniert.

      Es gibt noch etliche Gebäude aus der Qing-Zeit, aus der Kolonialzeit der Japaner, von Holländern, Spaniern und Portugiesen erbaute Häuser, zum Teil in Ruinen, die in der modernen Stadt einfach nur dastehen, architektonisch kaum in die Stadtplanung einbezogen. Immer wieder wurde ich auf die Dihua-Straße hingewiesen mit den Handelshäusern aus der japanischen Zeit. Sie hat durchaus Charme, doch die Gegend wurde von der Tourismusindustrie längst in Beschlag genommen. Ausgerechnet dort fand ich per Zufall ein Museum über die taiwanischen Komfortfrauen während des Zweiten Weltkriegs – noch nie hatte ich davon gehört, dass auch die Frauen in Taiwan dem »Komfort« japanischer Soldaten dienen mussten. Ich war überrascht, überrascht aber auch über meine Ignoranz.

      Spannender, als die Stadt und ihre Touristenattraktionen zu besuchen und ihr dadurch, so mein Eindruck, keinen Meter näherzukommen, war es, einzelne Viertel abzugehen. So konzentrierte ich mich in Taipei auf wenige Ecken, die ich wieder und wieder aufsuchte, wie beispielsweise den 2-28-Park zum Gedenken der Opfer des Aufstands vom 28. Februar 1947. Damals erhob sich das Volk gegen die Herrschaft der Kuomintang-Regierung, woraufhin die Militärdiktatur ihren Anfang nahm.

      Nach dem Vorbild der Peripatetiker ging ich durch die Stadt, wusste um die Bedeutung der Orte und verfolgte Spuren von Menschen damals wie heute, ging ihren Gedanken nach, verband sie mit den eigenen, sodass der Gang durch die Stadt und der Gedankengang irgendwann eins wurden. So taste ich am letzten Tag diesen Ort geografisch ab, lasse an ihm meine Erinnerungen entzünden.

      Ich nehme Abschied von der Verkäuferin im Laden unten im vierstöckigen Haus, in dem ich in den vergangenen sechs Monaten gelebt, gelernt, geschrieben, Notizen gemacht habe. Das Haus gehört der Armee, und nur zwei Wohnungen sind bewohnt. In den anderen hausen die Geister, sagte ich einmal, wurde dafür aber von meinen beiden Mitbewohnerinnen groß angeschaut – »Woher ich das wisse?« Kein Volk sei wohl abergläubischer als das taiwanische, sagte ich lachend. Weil wir am nächsten Tag einen Butterzopf backen wollten, behauptete ich, dass man zwar Mehl, Ei und Hefe brauche für einen Zopf, dass es aber auch nicht donnern und gewittern dürfe, sonst gehe der Hefeteig nicht auf. Der erste Versuch misslang, die Hefe war zu alt, das Wetter zu heiß, wir wussten es nicht. Wir versuchten es noch einmal, und der zweite Butterzopf wurde per WhatsApp in der Welt herumgereicht.

      Ich weiß nicht, was für ein Abschied das werden wird. Einer auf Raten, ein letzter Blick auf alles, gefüllt mit Schwermut, einer vorweggenommenen Wehmut? Wann saß ich das letzte Mal einfach so in einem Park und sah Menschen beim Leben zu? Wann werde ich es das nächste Mal tun? Oder an einem Fluss sitzen, an dem abends die Menschen den Tag ausklingen lassen? Wie oft bin ich am Jilong entlanggegangen, im Februar, März, April, bei heftigen Regenfällen, ungewiss, was diese Zeit bringen wird, was ich mit ihr anstelle. Vieles war in den ersten Monaten in der Schwebe, ein Leben auf Abruf, das jederzeit widerrufen werden konnte, weil niemand wusste, welche Veränderungen administrativer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art dieser Virus noch mit sich bringen würde. Im Mai, Juni und Juli ein Aufblühen, nicht nur der Menschen, die sich wieder hinaustrauten. Clubs, Ausstellungen, selbst das Wetter schien sich allmählich wieder zu öffnen. Über solche Dinge sann ich nach bei meinem letzten Gang dem Fluss entlang. Ich kam vom Museum für Moderne Kunst und ging zum Sanjiaodu, der dreibeinigen Furt, wo einst ein Flussarm zugeschüttet wurde, wovon heute nur noch der Name etwas weiß, wo ich viele frühe Morgenstunden Drachenboot paddelte.

      Ich habe zu wenig Fantasie, um mir vorstellen zu können, wie es ist, nicht mehr hier zu sein. Zu oft dieses »zum letzten Mal«. Seit Tagen stecke ich in einer Melancholie und heute an meinem letzten Tag erst recht – als sei das Weggehen ein Abschied aus einem Leben. Wie wird es sein, mich wieder in den Alltag fügen zu müssen? In meinen Notizen so viel Mikrokosmos, so viele Details, so viel Kleines im Großen. Wie sortiere ich es, füge es zusammen, mache meine Erlebnisse zugänglich für andere? »Die Gedanken zur Erinnerung vernähen«, schreibt die Theaterwissenschaftlerin Freda Fiala in ihrem Langpoem über Taipei.1 Mehr nicht. Oder durchs Schreiben einkapseln. Mehr nicht.

       Abfall

      Glück ist, wenn sich abends die Müllabfuhr mit Beethovens »Für Elise« oder Badarzewska-Baranowskas »Gebet einer Jungfrau« ankündigt. Es klingt, als käme der Eisverkäufer. Und plötzlich hebt ein Türenschlagen und Getrappel an, alle Bewohner laufen auf die Straße, um ihren Abfall loszuwerden. Nur dann, sagt Yen-fang, eine meiner beiden Mitbewohnerinnen, bekommt man seine Nachbarn zu Gesicht. Jedenfalls sind sonst nie so viele Menschen auf der Straße, wie wenn die Müllwagen kommen.

      In den neunziger Jahren führte die Stadtregierung Taipeis diese Abfallentsorgung ein, weil der Gestank im subtropischen Klima unerträglich war, sich Ratten und Ungeziefer über die Abfallsäcke hermachten und zu einer Plage wurden. Seither wird sauber entsorgt und gründlich recycelt. Vor den Abfallwagen stehen Arbeiter, die einem Glas, Papier und Plastikflaschen abnehmen. Müll sieht man auf Taipeis Straßen kaum, Abfalleimer sind selten, illegales Müllabladen ist strafbar. Einmal sah ich ein Schild, auf dem sogar die Götter mit Missachtung drohen, sollte hier jemand seinen Abfall abstellen.

      Mittlerweile weiß ich, wenn der Müllwagen vorn beim Park »Für Elise« spielt, ist es etwa sieben Uhr. Wenn ich den nicht schaffe, kann ich den Müll beim Wagen mit »A Maiden’s Prayer« bei uns in der Straße um 20 Uhr 40 abgeben, fast auf die Minute pünktlich. Und doch wird man Abend für Abend überrascht, weil man gerade mitten in einem Satz, einem Gedanken, einem Telefonat oder was auch immer steckt.

      Da diese beiden Melodien niemand mehr hören kann, hat die Stadtverwaltung neue einführen wollen, prompt riefen Bürger an und protestierten: Wo der Müllwagen denn bleibe? Nun habe man versäumt, den Müll zu entsorgen, weil man die neue Melodie nicht dem Müllwagen zuordnen könne! Her mit der alten Melodie! So erzählt es Yen-fang. Deshalb habe man es bei »Elise« und der »Jungfrau« belassen.

       Ahnung

      Manchmal stehe ich irgendwo oder bewege mich durch die Stadt mit dem Gefühl der Spannung, als berge dieses Land, diese Insel unzählige Möglichkeiten, tief unten in ihrem Felsensockel, umgeben von Meer, unter den Straßen, in den gezackten Tälern. Selbst beim Blick über den Fluss oder hinunter vom Balkon auf die Straße spüre ich die Spannung.

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