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      Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe

      Die Ereignisse von Annual bedeuteten für Spanien eine Zäsur.

      Im Sommer 1921 erlebte das spanische Heer bei Annual im nördlichen Marokko eine Niederlage, die als ›Das Desaster‹ oder ›Die Katastrophe‹ von Annual in die spanische Geschichte einging und oft nur ›Annual‹ heißt. Der aus der ›Katastrophe‹ hervorgehende militärische Strategiewechsel der Spanier ist vor allem ein Beispiel menschlicher Niedertracht und bezeugt, wie sich Feinde, die sich im ersten Weltkrieg noch unversöhnlich gegenüberstanden, verbünden konnten, um das Geschäft mit der schmutzigsten aller Kriegswaffen aufrechtzuerhalten: Gas. ›Annual‹ war die Folge unfähiger spanischer Diplomatie, die aus einem glühenden Sympathisanten, Abd El-Krim, einen erbitterten Feind alles Spanischen machte, der dann seinerseits kein Erbarmen mit den Besatzern kannte. In einem Jahre dauernden Feldzug verseuchten spanische und französische Militärs das Rif. Weite Landstriche sind seit dem Einsatz von Senfgas, den ein deutsches Unternehmen unter Leitung von Hugo Stelzenberg strategisch plante, heute, einhundert Jahre später, noch unfruchtbar. Die Auslöschung der vegetativen Lebensgrundlage war blindwütige Rache gegen einen unterlegenen aber taktisch versierten Gegner. Ein Blick auf die Personalie zeigt, dass dieselben Akteure, die ›Annual‹ zu verantworten hatten, Spaniens düsteres Schicksal für weitere 55 Jahre – bis 1975/76 – bestimmten, von denen neben zahlreichen Militärs und Politikern Miguel Primo de Rivera (›Diktatur Primo de Rivera‹ 1923–1930) und Francisco Franco (›Diktatur General Franco‹ 1939–1975) die bekanntesten sind. Spanien war bis 1923 eine Monarchie (König Alfons XIII dankte auch wegen ›Annual‹ unfreiwillig ab) und zwischen 1931 und 1936 eine Republik, gegen die Franco putschte, den man aufgrund seiner Erfolge in Marokko inzwischen zum General Franco ernannt hatte. Auf die Republik folgte der Spanische Bürgerkrieg. Die republikanischen Truppen verteidigten sich gegen die Angriffe der Faschisten bis 1939, hatten sich aber auch Gegnern aus den kommunistischen und anarchistischen Lagern zu erwehren. Sie standen, gleichsam die republikanische Idee der Freiheit, als gemeinsamer Gegner des Totalitarismus zwischen den Systemen, den ideologischen Antagonisten Faschismus und Bolschewismus, die den europäischen Kontinent in die Zange nahmen.

      1934, drei Jahre nach Ausrufung der Republik, der demokratische Wahlen vorausgegangen waren, und drei Jahre vor dem Aufstand der Faschisten, der unter Führung Francos von Marokko aus begann, köchelte immer wieder ein Thema hoch, das in unmittelbarem Zusammenhang mit ›Annual‹ stand. Befeuert von reaktionären Monarchisten, die sich mit Nationalisten, Militaristen und sonstigen Feinden der Demokratie zu einer Phalanx gegen die Republik verbündeten.

      Besagtes Thema war eine Anzahl von 300 Gefangenen – spanische Soldaten –, die sich in den Händen der Mauren befinden sollten. Abd El-Krim, der für die Idee einer Rif-Republik gekämpft hatte und in der arabischen Welt mit der Aura eines Ché Guevara versehen ist, war den Franzosen unter Philippe Pétain, der auch deutsches Gas im Rif-Krieg einsetzte, unterlegen und 1926 in die Verbannung gegangen. Seither war Marokko in französische und spanische Protektorate aufgeteilt, die von vielen rebellischen Zonen durchzogen waren, die keinen Anführer wie Abd El-Krim mehr hatten, aber mit dem aufkommenden Kemalismus am anderen Ende ihrer Hemisphäre liebäugelten. Ein Machtvakuum in der Provinz Ifni bewog die Republik Spanien schließlich, den Anspruch auf dieses Terrain geltend zu machen, der seit dem Vertrag von Wad-Ras im Jahr 1860 bestand.

      Im Januar 1934 kabelte der Journalist Manuel Chaves Nogales, damals stellvertretender Direktor der Madrider Tageszeitung AHORA zwei Beiträge aus Tanger in die Redaktion, den ersten mit der riesigen Headline: ES GIBT KEINE GEFANGENEN und versprach, man werde Licht in die Angelegenheit bringen.

      Wer war dieser Manuel Chaves Nogales, der so wichtig scheint und über den man im deutschen Sprachraum so gut wie nichts weiß? Einer, der so ausschweifend Spaniens letztes koloniale Abenteuer aus der Perspektive eines embedded journalist der ausgehenden Kolonialzeit beschreibt und als einer der ubiquitärsten Pioniere des modernen Journalismus gesehen werden kann. 1897 in Sevilla geboren, 1944 nach einer der aufregendsten journalistischen Karrieren seiner Zeit wenig abenteuerlich im Londoner Exil auf einem Operationstisch bei einem Routineeingriff verstorben. Nicht einmal sein Tod war von seinen Weggenossen bemerkt worden, beerdigt wurde er ohne Grabstein. Vergessen – „perfekt vergessen“, wie sich seine Tochter Pilar zu ihm äußerte –, aber auch ausgelöscht von Franco, der zum caudillo (Führer) aufgestiegen war und den Namen ›Chaves Nogales‹ verbieten ließ. Kein Pio Baroja, kein Unamuno, kein Josep Pla, keiner seiner Kollegen, kein Chronist, keiner dieser Zeitgenossen, Wegbegleiter, ja zeitweisen Mitarbeiter erinnerte sich seiner; die Archive sind, wie es scheint, leer. Bedauerlicher- wie erklärlicherweise war auch die Erinnerung seiner Familie verblasst, die er noch ins Exil nach Paris führte und dort verließ, als ihn die Gestapo hetzte. Sie, liebe Leser, werden, wenn Sie ihn kennenlernen, überrascht sein, zu welcher Integrität und Scharfsinnigkeit man in den 1930er und -40er Jahren noch fähig war und werden ›Chaves Nogales‹ Chronik mit Victor Klemperers Tagebüchern vergleichen wollen.

      Zurück in das Jahr 1934 und hinein in das Abenteuer. Chaves Nogales wird die ausweichende Haltung der spanischen Regierung, das Schicksal der mutmaßlich 300 gefangengehaltenen Soldaten hier aufzubauschen, dort zu vertuschen, als ein schändliches politisches Spiel mit der Leichtgläubigkeit entlarven und zum polemischen Leitmotiv seiner herrlichen und ausschweifenden Reportage über die Besetzung der Enklave Ifni durch spanische Truppen machen. Wobei er dank seines feinen politischen Sensoriums nicht davor zurückschreckt, den verschollenen General Silvestre auferstehen zu lassen, um geschickt an das Schicksal Dom Sebastiãos von Portugal zu erinnern. Diesen hatte Fernando Pessoa als Begründer einer Auferstehung Portugals beschworen. Wenn man es aus diesem Blickwinkel des Imperialen betrachtet, so war Pessoas spleen, sich als die ästhetische Inkarnation dieses Mythos zu bezeichnen, noch hinnehmbarer als Chaves Nogales’ Ironie. Zur realen Inkarnation des wie Dom Sebastião auf dem Schlachtfeld verschwundenen General Silvestre wurde ebenjener Francisco Franco, der, wie gesagt, 1936 von Marokko aus die Rebellion der Nationalisten gegen die Republik anführte und zur Inkarnation einer Bestie wurde.

      Nicht nur die neuere Mythologie zweier Nationen samt ihrer Abnabelungsschmerzen als Kolonialstaaten, die Legenden um verschollene Schlachtenführer kreieren, erlauben einen Vergleich des Portugiesen Pessoa mit dem Spanier Chaves Nogales. Vor allem auch der Umstand ihrer späten Wiederentdeckung für die literarische Welt legt dies nahe. Pessoa war seinen Zeitgenossen als Kritiker und Theoretiker, der in Zeitschriften publizierte, bekannt. Seine Dichtungen, die er dort auch unterbrachte, erreichten wenige Leser, wenn auch jeden, der Rang und Namen in der portugiesischen Literatur besaß. Noch in den 1980er Jahren war Pessoa in Deutschland bekannt als Autor des Gedichts Der Tabakladen, das der berühmte Paul Celan übersetzt hatte. Die Entdeckung des nunmehr weltberühmten Buchs der Unruhe ergab sich mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende der Salazar-Diktatur und des Estado Novo (1976) und circa fünfzig Jahre nach Pessoas Tod (1935). Chaves Nogales war zwischen 1921 und 1936 ein omnipräsenter Redakteur in allen noch existierenden liberalen Zeitungen Spaniens; bis 1944 publizierte er in Argentinien, Frankreich, in angelsächsischen Ländern: Neuseelands Presse vertraute nur seiner Reputation, wenn sie über Spanien berichtete – bis zuletzt besaß er seine eigene Agentur in London in der Nachbarschaft der verbliebenen freien Agenturen Europas, seine Radiobeiträge für die BBC gelten noch als verschollen. Entdeckt wurde sein Werk, das aus mehreren Tausend Artikeln besteht, die zunächst gar nicht wie ein Werk aussehen, ein knappes halbes Jahrhundert nach seinem Tod, maßgeblich von der Sevillana María Isabel Cintas Guillén, die während ihrer Doktorarbeit auf Chaves Nogales stieß. Zahlreiche seiner Reportagen waren als Buch aufgelegt worden, gleich nachdem sie als Fortsetzung ausgelaufen waren. Etwa sein Roman Juan Martínez, der dabei war, der zeitgleich zu seinen Artikeln aus der Enklave Ifni als wöchentliche Fortsetzung in 26 Teilen erschien, ein Roman, in dem er so viele Fakten zur Russischen Revolution verarbeitete, dass Klassiker wie 10 Tage, die die Welt erschütterten (John Reed, 1919) erblassen. Mit Juan Mártinez schuf Nogales auch das Modell für den Non-Fiktion-Roman, den man literaturgeschichtlich eher mit Kaltblütig (Truman Capote, 1965) verknüpft. All dies und circa fünfzehn weitere ›Titel‹ mehr lagen über fünfzig Jahre nach seinem Tod im doppelten Exil vergessen auf dem Grund zahlreicher Archive. So sehr verschollen, dass man sich wundert, wie endgültig ihn die spanische Intelligenz begraben hat. Ein heute völlig aus sich heraus zu berichtendes Werk war damals versunken. Ja nicht einmal Chaves Nogales’ einziges noch kursierendes Buch, die fiktive Autobiografie des Stierkämpfers Juan Belmonte

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