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weiterleben?

      Viele unserer FreundInnen, auch jene, die uns in der Akutphase großartig unterstützt hatten, glaubten, mit Ninas Tod sei das »Schlimmste« quasi ausgestanden. Wir müssten uns nicht mehr um eine schwerstbehinderte Tochter kümmern, Nina selbst sei von ihren Qualen erlöst (was den Tatsachen entspricht), jetzt nur noch die notwendige Trauer und den Verlust verarbeiten (natürlich in ein paar Monaten), und dann ist alles wieder »normal«.

      Nein, ist es nicht! Wir haben bis heute mit den Folgen unseres Schicksalsschlages zu kämpfen – psychisch und physisch. Gleichzeitig ist dieser Kampf aber auch ein Weg der Heilung, der nicht nur aktuelle, sondern auch ganz alte Wunden betrifft.

      Dieser Weg hat ganz viel mit Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbewusstsein zu tun bzw. lässt sich mit diesen beiden Begriffen gut umreißen. Mit jedem Jahr, das nach Ninas Tod vergangen ist, hat sich unser Erfahrungshorizont erweitert und der persönliche Zustand verändert. Es ist und war ein Prozess, der uns an den Punkt gebracht hat, dieses Buch nun zu veröffentlichen. Zu einem früheren Zeitpunkt wären wir noch nicht so weit gewesen, wie wir es jetzt sind. Und die Zukunft wird uns mit Sicherheit noch weiter verändern. Doch wir beide glauben, dass unser Dasein nun auf einem guten, tragbaren Fundament steht, so dass wir uns zu sagen getrauen: So kann es funktionieren, so kann es gelingen, nachhaltig zufrieden zu sein – egal, was war, egal, was noch kommt.

      Wir werden die nächsten Kapitel dieses Buches in drei große Abschnitte unterteilen, die stellvertretend für je einen Teil unseres Weges stehen. Da ist zum einen der kognitive Zugang: Zu verstehen, was mit Nina passiert ist, was das alles mit uns macht, war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Krisenbewältigung. Das Verstehen-Wollen hält bis heute an, oft gibt es Zusammenhänge oder Erkenntnisse, die erst nach einer gewissen Zeit zugänglich sind. Ich hätte es zum Beispiel direkt nach Ninas Tod nie geschafft, ein Buch über Trauer zu lesen. Auch ein Seminar mit dem Thema »Tabu Suizid – Wir sprechen darüber« musste ich frühzeitig abbrechen. Dieses distanzierte wissenschaftliche Befassen mit einem für mich zutiefst emotionalen Thema war mir lange Zeit nicht möglich, obwohl ich gleichzeitig offen über beides sprechen konnte.

      Zum körperlichen Zugang von Krisenbewältigung hatten wir bereits vor unserem Schicksalsschlag aus beruflichen Gründen gefunden – Alex als Skisprungtrainer und ich als AVWF-Trainerin. Auf Grundlage der von Ulrich Conrady entwickelten Audiovisuellen Wahrnehmungsförderung beschäftigten wir uns mit Stressregulierung und der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, die gerade im englischsprachigen Bereich bei immer mehr Therapieformen Beachtung findet.

      Es geht um die Antwort unseres autonomen Nervensystems auf einen externen oder internen Reiz, der als Gefahr gewertet wird. Schaltet unser Körper in den Kampf- oder Fluchtmodus, so werden unbewusst blitzschnell bestimmte Prozesse eingeleitet: Unser Herz schlägt schneller, die Muskelspannung erhöht sich, das Blickfeld verengt sich. Chronische Anspannung oder ein extrem überforderndes Ereignis, das kämpfen oder flüchten unmöglich macht, führen hingegen zu einem Zustand der Erstarrung. Unser »Reptiliengehirn« wird aktiv und will uns mit dem energiesparenden Totstellreflex möglichst schadlos durch die Gefahr bringen.

      Löst sich eine potenzielle Gefahrensituation schnell wieder auf, dann gelingt es einem anpassungsfähigen Organismus, sich genauso rasch wieder zu beruhigen, wie er sich zuvor erregt hat. Bleibt eine prekäre Situation aber über längere Zeit bestehen, dann verharrt unser Gehirn in erhöhter Alarmbereitschaft. Dies war für viele Menschen während des Lockdowns deutlich zu spüren. Jeden Tag musste man sich auf Neuerungen einstellen, während die Lage insgesamt im Ungewissen blieb. Angst erhöhte bei vielen zunächst die Anpassungsfähigkeit, bei manchen führte sie aber auch ganz schnell zur Erstarrung.

      Diese ständige Alarmbereitschaft kostet den Körper viel Energie, zumal auch Schlafqualität und Erholungsfähigkeit sinken. Wie lange dieser Zustand aufrechtzuerhalten ist, hängt ganz von den individuellen Ressourcen und den äußeren Umständen ab. Was folgt, ist eine Phase der Erschöpfung und im besten Fall der notwendigen Regeneration. Während wir in den ersten Wochen des Shutdowns rege Betriebsamkeit entwickelten – das Haus gründlich durchputzten, im Garten neue Beete anlegten, unsere Social-Media-Kanäle bedienten –, setzte irgendwann bleierne Müdigkeit ein.

      Wem wollten wir mit unserer übertriebenen Geschäftigkeit etwas beweisen? Durften wir es uns nicht erlauben, in dieser Ausnahmesituation müde zu sein? Als Nina im Wachkoma lag, verdrängten wir bewusst 13 Monate lang alle Hinweise unseres Körpers, dass es Zeit wäre, sich zu erholen. Die Hoffnung auf Genesung ließ uns durchhalten und ein immenses Arbeitspensum zwischen Klinik, Beruf und der restlichen Familie bewältigen. Genauso wie Alex jahrelang mit extrem wenig Schlaf ausgekommen war, als er auf dem Weg zum erfolgreichen Skisprungtrainer fast rund um die Uhr gearbeitet hatte. Dieser Raubbau an der eigenen Gesundheit machte sich erst später bemerkbar, als ihn die Erkrankung unseres ältesten Sohnes in die Erschöpfungsdepression führte.

      Das Bewusstsein, dass es einer Veränderung bedurfte, kam also sehr spät und war zu dieser Zeit auch nicht nachhaltig. Wir beide hatten längst verlernt, auf die Bedürfnisse unseres Körpers zu hören. Mehrere Bandscheibenvorfälle bei Alex, immer stärker werdende Migräneattacken bei mir waren dank starker Schmerzmitteln als Signale immer noch zu schwach, um nachhaltig gehört zu werden. Wir beide waren getrieben von dem Gedanken, etwas leisten zu müssen, egal ob im Beruf, als Eltern oder im Privatleben. Sich zu erholen war nur kurz erlaubt, entweder als Belohnung oder aufgrund unseres schweren Schicksalsschlages, dann musste es weitergehen. Diese ungesunden Verhaltensmuster waren (und sind es teilweise bis heute) unterfüttert mit für uns negativen Emotionen: Ich habe mich geschämt, faul vor dem Fernseher zu liegen. Alex fühlte sich wertlos, wenn er nicht beruflich arbeitete. An dieser Stelle wird der Zusammenhang mit dem emotionalen Anteil von Anpassungsfähigkeit sehr gut sichtbar.

      Dass die Angst vor einem unbekannten Virus die Anpassungsfähigkeit eines Großteils der Bevölkerung maßgeblich beeinflusst, hat wiederum die Corona-Krise eindeutig gezeigt. Wie sehr die Menschen ihr Leben aber wirklich verändern wollen oder eben nicht, förderte erst ein erstes Abebben der Infektionen im Sommer 2020 zutage. Erster Widerstand gegen die Maßnahmen der Regierung wurde laut, Verschwörungsideologien fanden regen Zuspruch. Die Kluft zwischen denen, die ihr altes Leben ohne Einschränkungen trotz Covid-19 zurückhaben wollten, und jenen, die immer noch große Angst vor dem Virus hatten, wuchs bedenklich an.

      Gefühle beeinflussen unsere Anpassungsfähigkeit. Angst lässt uns eher durchhalten, Wut verleitet zum Widerstand. Der Neid auf jene, die sich den Regeln widersetzen, produziert wiederum Zorn bei denen, die sich das nicht trauen (das Denunziantentum feierte während und nach dem Lockdown fröhliche Urständ). Dass unsere Tochter versucht hatte, sich umzubringen, führte bei mir zu starken Schamgefühlen, die bewirkten, dass ich mir klein und wertlos vorkam. Ich hatte sogar in dieser extremen Situation den Drang, es allen recht zu machen: Besucher zu empfangen, die so überfordert waren, dass ich sie stützen musste, anstatt umgekehrt. An das Pflegepersonal möglichst keine »Extra-Wünsche« zu stellen, um ja nicht als aufdringlich empfunden zu werden. Sich kluge Sprüche und Weisheiten von Menschen anzuhören, die in Wahrheit keine Ahnung hatten. In Gesellschaft von Freundinnen nicht (mehr) zu weinen oder über meine Trauer zu sprechen, um niemanden zu belasten oder die gute Stimmung zu zerstören.

      Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Bei Alex verlagerte sich das Gefühl der Wertlosigkeit hingegen auf den beruflichen Bereich. Die Erschöpfung, die aus der monatelangen Überforderung durch unsere Situation resultierte, machte ihm Angst, dass er uns nicht mehr versorgen könnte. Obwohl wir finanziell abgesichert waren und uns beiden dank bisheriger Ausbildungen und Erfahrungen Möglichkeiten offenstanden, hatte er das Gefühl, nichts zu leisten. Während unsere Tochter noch im Wachkoma lag, war für diese Gefühle kaum Zeit, jeder Tag war geplant und eng durchgetaktet. Nach ihrem Tod und während der ersten Zeit der allumfassenden Trauer meldeten sich diese dafür aber mit größter Vehemenz.

      Der Umgang mit diesen (und anderen) vermeintlich negativen Gefühlen veränderte sich: Versuchten wir sie anfangs zu verdrängen, so schafften wir es schließlich, uns ihnen mit therapeutischer Hilfe zu stellen. Nicht alle Emotionen hingen mit der akuten dramatischen Situation zusammen, manche hatten ihren Ursprung in frühkindlichen Prägungen. Diese Erkenntnis brachte nicht unbedingt

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