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die Bäuerin keineswegs gewachsen. Von Einfühlungsvermögen und Verständnis uns gegenüber war sie weit entfernt. Dazu kam, dass sie den Verlust ihres eigenen Kindes noch nicht verarbeitet hatte. Es musste sterben und Walti, der Angenommene, durfte leben. Oft schaute sie in die Schublade, wo die Sachen des Verstorbenen lagen, nahm etwas heraus, versorgte es aber gleich wieder mit den Worten: «Nein, diese Kleider kann ich dem Walti nicht anziehen, die gehörten meinem Robertli.» Sie arbeitete sich zwanghaft in eine Neidsituation hinein.

      Wir waren so genannte Angenommene, Fremdlinge, nicht Bauernkinder. Wir stammten aus einem anderen Umfeld. Wir fühlten, dass wir nicht dazu gehörten. Nicht aus Liebe oder Berufung wurden wir gehalten, es war reine Berechnung. Pflegekinder waren bei gewissen Bauern gesuchte Objekte. Bargeld war damals rar. Solches gab es nur bei der Milchzahlung. Die Bauern lebten hauptsächlich vom Ertrag aus Feld, Stall und Garten. Und die Ernte kam ja auch nicht von allein ins Haus. Also schauten sie sich nach solchen Kindern um. Dabei hatten sie gleich zwei Fliegen auf einen Schlag. Sie kassierten Bargeld und verfügten zugleich über eine Arbeitskraft.

      Die Burris boten uns nicht an, sie als Vater und Mutter anzusprechen. Daher nannten wir sie wie am ersten Tag Herr und Frau Burri. Sie korrigierten uns nie.

      Herr Burri nannte seine Frau selten beim Namen. Daher war ich recht ergriffen, als er einmal in meiner Anwesenheit seine Frau Rosi rief. Diese starre, in Trauer gehüllte Frau hatte einen Vornamen. Sie war auch einmal ein Mädchen, ein Kind. Aus dieser plötzlichen Überlegung heraus erhoffte ich mir mehr Nähe zu ihr. Aber die Distanz blieb. Wenn Frau Rosi, wie ich sie heimlich nannte, ihren Gatten mit Fritz ansprach, musste schon ein Sonderfall vorliegen.

      Werktags durften auf dem Bauernhof keine Spielsachen herumliegen. Das fiel uns leicht, denn wir hatten kaum solche. Was Mama uns mitgegeben hatte, ergab nicht ein halbes Dutzend. Nach Feierabend oder an Sonntagen spielte ich mit einer ausrangierten Mausefalle. Sie bestand aus einem ausgehöhlten Baumstammstück. Meine Fantasie hatte sie zu einem Puppenhaus umfunktioniert.

      Wir wurden schon bald zu allen möglichen Arbeiten herangezogen. Meiner Schwester zeigte Frau Rosi, wie sie den Küchenboden schrubben und aufwischen solle. Ihr trockne der Boden gleich hinter dem Lappen her, prahlte sie. Mit ihren kräftigen Händen konnte sie den Lappen mühelos ausdrücken. Bei Elsbeths Aufwaschen blieb der Boden längere Zeit nass. Deswegen wurde sie heftig an den Haaren geschüttelt und als Nichtsnutz hingestellt.

      Arbeit und Schule

      Am Morgen musste ich mit dem Bauern und dem Graskarren aufs Feld. Offensichtlich wollte man mich mit den Arbeiten «draussen» vertraut machen. Meine Schwester war als Hilfe in der Küche vorgesehen. Den kleinen Walti konnten sie noch nicht einspannen, also musste ich mich damit abfinden und Feldarbeiten verrichten.

      Erst schritt ich in einigem Abstand hinter dem Bauern her, der breitspurig Fuss um Fuss vorsetzte und dabei weit ausholend die Sense schwang. Das taunasse Gras fiel dabei in gleichmässigem Rhythmus zu Boden. Mich faszinierte, wie das blanke Metall durch die üppige Wiese zischte. Gleichzeitig lösten sich bei jedem Schnitt die silberglänzenden Wasserperlen. Tausend Tropfen sprangen von den Halmen. Mit Wohlbehagen atmete ich den aromatisch würzigen Duft von frisch geschnittenem Gras ein. Dieses Gefühl von klarer, reiner Natur ist seitdem nie mehr aus meiner Erinnerung gewichen.

      Während ich den Mähvorgang bestaunte, hatte der Bauer die erste Mahd geschnitten. Er drehte sich um, zog den Wetzstein aus dem Fass und begann die aufgestellte Sense zu wetzen. Zugleich deutete er mit dem Kopf gegen den Wagen hin und sagte: «Dort ist eine kleine Gabel. Du kannst damit Gras zusammenstossen und auf den Wagen laden.»

      Ich behändigte das ungewohnte Werkzeug, schob den Graswalm vor mir her, bis genug auf der Gabel lag, dann warf ich die Ladung auf den hohen Wagen. Etwas davon landete auf dem Gefährt, der Rest in meinen Haaren und wieder auf dem Boden.

      Zum Frühstück, wie auch sehr oft zum Abendessen, gab es jeweils die schmackhafte Kartoffelrösti. Die beiden Bauersleute assen sie gleich mit dem Suppenlöffel aus der Platte. Uns Kindern schöpften sie eine Portion in die Teller.

      Wenn Frau Burri diese Speise abends zubereitete, beobachtete ich, wie sie kurz vor dem Anrichten einen Schuss Brunnenwasser – Gätzischmutz – dazugoss. Damit gab sie dem Gericht die nötige Flüssigkeit zurück, die sich während der Bratzeit verflüchtigt hatte. Darauf stürzte sie diese goldgelbe Kartoffelspeise auf die traditionelle Röstiplatte.

      Ich war für die Gschwellten zuständig und damit verantwortlich dafür, dass immer genug gekochte Kartoffeln vorhanden waren. Im kleinen Brunnentrog traktierte ich die ­rohen Kartoffeln so lange mit dem Besen, bis sie einigermassen sauber waren. Dann holte ich die Knollen aus dem kalten Wasser und liess sie in einem Drahtkorb abtropfen. Aber anscheinend zu wenig lange. Ich schleppte das Gefäss in die ­Küche. Der schwere Korb, den ich kaum zu heben vermochte, hinterliess vom Brunnen bis zum Kochherd eine nasse Schleifspur.

      Weil Rosi Burri allergisch auf nasse Küchenböden war, quittierte sie meine Arbeit mit einer Strublete. Sie schüttelte mich heftig am Haarbusch, den sie mir mit einer Schleife ­zusammengebunden hatte. Völlig verschüchtert stand ich da. Ich hatte eher ein Lob erwartet, weil ich mich so beeilt hatte mit der Herrichtung der Kartoffeln. Aber bald lernte ich, dass Angenommene nichts zu erwarten hatten. Eher hätte ich mich noch für die Strublete bedanken sollen, für die so genannte gute Erziehung, die sie uns allzu oft angedeihen liess.

      Die Bauern verlangten, dass wir uns stets überall und für alles bedankten. Sie liessen uns bei Tisch das Gebet sprechen. Jeden Morgen und jeden Abend las der Bauer aus der Bibel vor, die er mit einem Handgriff von einem Tablar über sich herunter holte. Im «Neukirchener Kalender» war angegeben, welchen Text er am jeweiligen Tag lesen musste. «Bete und arbeite» war die oberste Devise.

      Alles drehte sich um die Kartoffel. Sie galt als Hauptnahrungsmittel, nebst dem Brot. Selbst die Schweine erhielten ihre «Säuer»-Ration. In einem eigens dafür bestimmten Gerät wurden die gesottenen Kartoffeln für sie zerkleinert und gemahlen. Während ich diese Drehmühle bediente, konnte ich den Betrieb im Hof eingehend beobachten.

      Der Schweinestall befand sich im hinteren Hofteil. Der Weg dorthin führte über die Güllengrube. Sobald nun Rosi Burri im stampfenden Schritt mit dem gefüllten «Säuhafen» die ersten Güllenlatten betreten hatte, ging im Schweinestall ein ohrenbetäubendes Geschrei und Grunzen los. Die Tiere wussten genau, dass sie nun gefüttert würden. Noch bevor etwas im Trog lag, steckten die Schweine ihre Köpfe hinein. Sie besetzten die Plätze, um als Erste ans Futter heranzukommen. Die Bäuerin goss ihnen kurzerhand die ganze Suppe mit Kartoffeln, Speiseresten und was auch immer sich darin befand, über die Köpfe. Dann ging das Schnalzen und Schmatzen los. Die Frau klappte den Trogdeckel wieder zu. Wie sich dann die Sauen die übergossenen Gringe säuberten, blieb ihnen selbst überlassen.

      In Burris Stall hauste ein grosses Mutterschwein. Dieses sollte man einmal ins Freie lassen, fanden die Bauersleute. Also führte man dieses massige Tier aus dem Stall in den Obstgarten. Mir gaben sie einen Stock in die Hand. Ich sollte das Schwein hüten. In der hinteren Baumreihe stellte ich mich auf, um das Tier aufzuhalten, falls es ins Wiesland wollte. Wir alle aber hatten die Kalkulation ohne das Grunzschwein gemacht.

      Sobald dieses frische Luft und Freiheit gerochen hatte, rannte es laut grunzend im Zickzackkurs durch den Obst­garten. Mit einen Sprung hinter einen Apfelbaum konnte ich mich vor ihm retten, sonst hätte es mich zweifellos überrannt.

      Der Bauer sah, dass sie mir mit diesem Hütedienst doch zu viel zugemutet hatten. Er kam angerannt, entriss mir den Stock und eilte dem Schwein nach. Es nahm Kurs Richtung Schulhaus. Auf halbem Wege holte er es ein und klemmte es sich zwischen die Beine. Rittlings musste er noch eine Strecke mitlaufen. Dabei packte er das Borstenvieh an den Ohren.

      Wir hatten uns indessen auch der Szene genähert. Die Bäuerin schrie ihrem Mann zu: «Pass auf, pass auf, du reisst ihm das Ohr aus.»

      Tatsächlich klaffte am Ohransatz ein grosser Riss. Es war ein richtiger Kampf, bis der Bauer das kräftige Tier wieder unter Kontrolle hatte. Mit Fusstritten und Stockhieben beförderte er das übermütige Schwein zurück in den Stall. Von einem neuerlichen Weidegang wurde in Zukunft abgesehen.

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