Скачать книгу

Dann schlichen sie an ihren Platz, rot im Gesicht von den verbissenen Schmerzenstränen, denn als Brüelichindli verspottet zu werden hätte sie ganz entehrt. Andre traten herausfordernd erhobenen Kopfs vor und taten, der Lehrer mochte zuschlagen, wie er wollte, keinen Mucks. Wenn sie sich umdrehten und an ihren Platz schlacksten, hatten auch sie rote Gesichter, doch sie grinsten. Was sie dachten, sagte ihr steifer Rücken.

      Lehrer Kuhn von der 3. und 4. Primar war ein kinderfreundlicher Mensch und hielt in körperlichen Züchtigungen zurück. Auch hatte er sie selten nötig, denn er unterrichtete lebendig und spannend. Statt Langweil stellte sich bei ihm eher ein das Mass sprengender Übermut ein. Er galt deswegen als mittelmässiger Lehrer; meine Eltern machten sich sogar Sorgen, als ich ihm und nicht «Näppu» zugelost wurde. De hölzig Himel in unsrem Klassenzimmer im Nordostrisalit des Schulpalasts musste von Zeit zu Zeit gezügelt werden. Dies taten Kopfnüsse, deren Härte Herr Kuhn genau definierte und dosierte. Da er ungern strafte, musste er zuvor sich selbst überzeugen; er hielt ein kurzes Plaidoyer. «Walo, jetzt reicht es; zehnmal hab ich dir gesagt, du sollest den Schnabel halten; du störst deine Kameraden. Du bist rücksichtslos; stell dir vor, wenn alle schwatzten und gigelten und gagelten wie du. Wir sind nicht in der Katzenschule. Wenn das am grünen Holz geschieht … Die Gerechtigkeit erfordert es, dass ich dich strafe. Das wirst du einsehen. Ich werde dir eine Kopfnuss schenken.» Gerechtigkeit und das grüne Holz der Bibel waren Lieblingsformeln von Herrn Kuhn.

      Nun trat er hinter Walo, meinen Schulfreund: «Was ist dir lieber, eine Buchnuss oder eine Haselnuss oder eine Baumnuss?» Womit er Walo den Schein einer freien Wahl einräumte. Den Kopf zwischen den Schultern, entschied Walo sich für die Buchnuss. Die Sekunden vor der Bestrafung waren unerträglich. Der Schlag, geführt mit dem Knöchel am eingebogenen Mittelfinger der rechten Hand, fiel, das Echo des mit Gehirnmasse gefüllten Schädels war dumpf, der Gerechtigkeit war Genüge getan, die Stunde nahm ihren Fortgang.

      →GerechtigkeitKalligraphieRaumerWalo

      Führer

      Fritz Heimann, Metzgerssohn, de Heimi geheissen, ein kräftiger fleischiger Junge mit blonder Bürste, befehlendem Diskant und Kinnhakenfäusten, war geboren zum Anführer der Klasse von Lehrer Kuhn. Leider aber gabʼs noch Peter, den Sohn des Delikatessenhändlers Hürzeler, der keine hundert Meter von der Berner Metzgerei Heimann entfernt seinen scharf nach Fisch und Käse riechenden Basler Laden hatte. Der sehnig athletische, mit zähem Durchsetzungswillen ausgestattete, hart gehaltene und wohl geprügelte Hüürzi machte Heimi die Führung streitig. Er hatte Laufburschenerfahrung, sein Strahl stieg höher und reichte weiter als derjenige Heimis. Sieg und Niederlage der zwei wogen einander auf, Waffenstillstände folgten. Solche Neutralisationsperioden verschafften den Diadochen Spielraum, so dass weder Heimi noch Hüürzi je eine Terrorherrschaft errichten konnten.

      Während dergestalter Koexistenz kamen subtilere Qualitäten als Faust, Stimme, Dauerlauf und Pinkeln zum Tragen. Urs Meier, der Sohn des Chefchirurgen vom Bezirksspital, glänzte mit seinem Imitations­talent und der komischen Laune. Auch er fand das Führerduo vermutlich borniert; unterstützt wurde er von Dieter Hauri, seinem Freund, dem Sohn des Bezirksstaatsanwalts. Beider soziales Prestige drückte zuweilen selbst die grossen zwei an die Wand, doch fehlte Urs wie Dieter der Wille zur Macht; sie alberten lieber.

      Urs war längere Zeit krank gewesen, und ich hatte ihn vermisst, denn ich liebte ihn, seiner mitreissenden Lachlust wegen, heimlich und innig. Als er eines Morgens wieder unter uns vor dem Klassenzimmer wartete, fiel ich ihm um den Hals. Er stiess mich nicht zurück, er strich die Liebeshuldigung ein wie ein Trinkgeld.

      →Fip-Fop-ClubOffside

      Aufsätze verbessern

      Fünftklasslehrer Raumer hat eine milde Gewohnheit: Er legt die Aufsatzstunden so, dass eine Pause sie unterbricht. Dies ist vertretbar; allenfalls mag erstaunen, dass selbst er auf den Genuss verzichtet, seine Schüler zwei Stunden lang ohne Pause über ihren Arbeiten schwitzen zu sehen. Mir gibt er Gelegenheit, sozusagen mit inoffizieller Duldung rasch die Texte einiger Kameraden zu überfliegen und ins Auge springende Fehler zu verbessern. Ich tue dies, um sie vor Raumers Hohn zu bewahren, denn schwere Fehler – schwer in seinen grünlichblässlichen Augen – locken ihn aufs Schlachtfeld, und dann Gnad Gott.

      «Doo schriibt drMarazzi ‹flüüge› mit V und ‹Vogel› mit F. Wäisch, Marazzi, daas längt nidemou idSchpeziauklass. Jemee Brilantiine ufem Chopf, deschtweniger Hirni drininn. Chaufder emoou es Büchsli vom Bessere. – Natüürlech, sBarrelet hetno immer nid bigriffe, das ‹ich› käis Dingwoort isch. Chunnschder eso wichtig voor, wiut inere Villa hocksch? Aber zGäut ungGschiidhäit händ gottlob sHöi nid ufdr gliiche Büni. – Moserli, no jedem Uufsatz wuurd ii am liebschte diis Heft verschränze. Hesch dRingmuursöili druff lo tanze? Dasch guepfür dGüselabfuer.»

      →Aargauer Schulwand- und SchülerkarteGerechtigkeitRaumer

       Schweizerdeutsch und Deutsch

      Ich kann mich nicht erinnern, Deutsch gelernt zu haben; die Eltern lesen oft vor; in der Schule steige ich mühelos um und zurück, wenn auch in ländlich schweizerdeutscher Aussprache. Meine Hemmungen vor dem abfallenden Schluss-E überwinde ich erst in der 3. Klasse. Dass man nicht wie ein buchstabierender ABC-Schütze Tagé, Mühé, Schulé, sondern Tagö, Mühö, Schulö sprechen sollte, geniert mich entsetzlich. Als mir dämmert, dass man dies nicht zu betonen braucht, sind die Hemmungen überwunden. Tag : nichts natürlicher.

      Als wir in der 5. Klasse der Sprache grammatikalisch zu Leibe rücken, halte ichʼs für unnötig, Konjugation von Deklination zu unterscheiden, überhaupt Grammatik zu lernen. Als Raumer mich auffordert, die vier Fälle des Wortes «der Mann» herzusagen, bleibe ich stumm. Um so prompter schnarrt meine Nachbarin über dem Mittelgang, Rosmarie mit den roten Haarmaschen, «der Mann, des Mannes, dem Manne, den Mann» herunter. Raumer ist beglückt: Das kommt ja wie aus der Kanone geschossen! Und er macht Rosmarie schwache Hoffnung, vielleicht, wenn sie sich von nun an ins Zeug lege wie ein Ackergaul und ihr Schwatzwerk ausschliesslich für Antworten auf die Fragen des Lehrers in Gang setze, doch noch mit knapper Not in die Bezirksschule zu rutschen. Es gibt also eine Grammatik, welche die lebendige Rede in ihren Netzen fängt und sie darin zappeln lässt wie den Fisch im Netz und Richtig von Falsch scheidet. Absurd.

      →ElternspracheVorlesen

      Liedgut

      Unser Gesangsunterricht begann mit «Alle Vögel sind schon da» und dem Kanon «Bruder Jakob», bei dem ich vor Angst, aus dem Takt zu fallen, den Anschluss verpasste. Er setzte sich etwas später fort mit «Lustig ist das Zigeunerleben, trarira», gewann Erhabenheit mit «Der Du die Himmel hältst in Deinen Händen», einem der zahlreichen Versuche, den allzu anspruchsvollen «Schweizerpsalm» resp. «Rufst du, mein Vaterland» als Nationalhymne abzulösen; offenbar sollte dessen Gesangs­tauglichkeit fürs Volk an uns Schülern getestet werden, auch wollte man uns wohl das Schicksal ersparen, «Froh noch im Todesstreich» zu enden. Nun steigerte die Musikpädagogik sich zum Sempacherlied «Lasst hören aus alter Zeit/von kühner Ahnen Heldenstreit,/von Speerwucht und wildem Schwertkampf,/von Schlachtstaub und heissem Blutdampf». Das Nazilied «Wir

Скачать книгу