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Es ist kalt in Brandenburg. Niklaus Meienberg
Читать онлайн.Название Es ist kalt in Brandenburg
Год выпуска 0
isbn 9783038551553
Автор произведения Niklaus Meienberg
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
Die Schiessübungen sind nicht aufgefallen, keine Polizei ist eingeschritten. Das ist eigenartig, denn Berchtesgaden liegt nicht dort, wo Schützenvereine und Milizsoldaten das Schiessen zu einem festen Bestandteil der Landschaft machen.
Schüsse sind in dieser stillen Natur deutlich hörbar, auch solche aus einer kleinkalibrigen Pistole, der Schall trägt kilometerweit.
PR-Film des Verkehrsverein Berchtesgaden, 1935. Touristen in unmittelbarer Nähe des «Berghofs». Im Kabriolett vorne rechts: H.
(Wir haben für den Film die Szene nachgestellt. Man kann den Ton weit in der Runde nicht überhören. Und Bavaud besass keinen Schalldämpfer.)
In Berchtesgaden ging damals alles seinen gewohnten friedlichen Gang. Ende Oktober spielte das Mirabell-Tonkino an der Rainerstrasse «Diskretion Ehrensache» mit Heli Finkenzeller, Hans Holt, Theo Lingen u. d. gr. Komikeraufgebot. Der Wetterbericht des Reichswetterdienstes stellte für den 26. Oktober in Aussicht: Vielfach Nebel und Hochnebel, der sich auch tagsüber nur stellenweise auflöst, weiterhin schwachwindig und kalt, in Höhen vorwiegend heiter, leichter Nachtfrost. Im «Berchtesgadener Anzeiger» suchte gebildetes älteres Frl. mit jahrel. Erfahrung in Pensionsbetrieb, gesund und arbeitsfreudig, gewandt im Verkehr, Maschinenschr., Nähen u. beste Köchin, auch Diät und Veget., passende Stellung, Schriftl. Angebote unter C. L. an die Geschäftsstelle. Auf dem Wimbachlehen, Ramsen, war eine Kuh, beim Kalb stehend, zu verkaufen, in Bad Reichenhall kam der Jud Veilchenblau vor den Richter, und die Bergführer waren unterbeschäftigt, wie das Lokalblatt vermerkte: «Dass sich die Eingliederung der Ostmark in bezug auf Nachfrage nach Bergführern in unserem Gebiet ungünstig auswirken würde, war wohl vorauszusehen nach der langen Grenzsperre und dem begreiflichen Verlangen des deutschen Bergsteigers nach verhältnismässig leicht auszuführenden Hochtouren in den Gletschergebieten.»
Bavaud war hier fremd, er sprach fast kein Deutsch und suchte Anschluss. Die Anklageschrift hält fest:
Auf Anregung des Betriebsführers des Hotels «Stiftskeller» suchte der Angeklagte während der Schulzeit in der Oberschule in Berchtesgaden den dort tätigen Studienassessor Ehrenspeck auf und brachte diesem gegenüber nach der Vorstellung zum Ausdruck, dass er infolge seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache einen Verkehr mit französisch sprechenden Personen in Berchtesgaden suche. In der Folgezeit waren dann der genannte Studienassessor Ehrenspeck und der von diesem weiter hinzugezogene Studienassessor Reuther wiederholt mit dem Angeklagten in verschiedenen Gaststätten in Berchtesgaden zusammen.
Die beiden Studienassessoren haben sich gefreut, sie konnten ihr Französisch praktizieren, und Ehrenspeck liess den jungen Schweizer in der Schule auftreten; endlich jemand, der den Gymnasiasten einen französischen Originalton vorführte. (Vielleicht hat Maurice mit ihnen den subjonctif durchgenommen oder eine Passage aus «Les Lettres de mon moulin» vorgelesen.)
Ehrenspeck ist unterdessen gestorben, aber Reuther, der in Würzburg lebt, erinnert sich genau an den manierlichen, sauber gekleideten jungen Mann, welcher kurze Zeit bei Ehrenspeck hospitiert und einen vortrefflichen Eindruck gemacht habe. Er habe sich als Bewunderer des Nationalsozialismus ausgegeben und sich nach den Möglichkeiten erkundigt, auf den Berghof zu gelangen und den Führer zu sprechen. So etwas sei damals häufig vorgekommen, schwärmerische Leute aus aller Herren Länder seien in Berchtesgaden aufgetaucht, um einen Blick auf den Führer zu erhaschen, und der junge Schweizer sei deshalb nicht besonders aufgefallen. Man habe ihm bedeutet, dass es wohl unmöglich sein dürfte, in einer Privataudienz von H. im Berghof empfangen zu werden; und weil dieser sich sehr unregelmässig dort oben aufhielt, habe auch keine Garantie bestanden, ihn irgendwie, wenn auch nur kurz, zu Gesicht zu bekommen. Deshalb habe man dem jungen Mann empfohlen, sich am 9. 11. nach München zu begeben, weil H. mit Sicherheit immer am Erinnerungsmarsch teilgenommen habe und Maurice dort den Gegenstand seiner Verehrung ohne jeden Zweifel würde sehen können.
Er, Reuther, sei dann aus allen Wolken gefallen, als ihn die Gestapo wegen Maurice verhört habe; desgleichen Ehrenspeck. Man habe dem jungen Mann nie und nimmer ein Attentatsvorhaben zugetraut, er sei auch nicht im geringsten nervös gewesen, und nichts, aber auch gar nichts in seinem Verhalten, hätte sie misstrauisch stimmen können. Auch Major Deckert von der Sicherungsgruppe Berchtesgaden, der hin und wieder an ihrem Stammtisch in der «Post» aufgekreuzt sei, habe keinen Verdacht geschöpft und wäre doch, als Mit-Verantwortlicher für die Sicherheit des Führers, sozusagen professionell in der Lage gewesen, etwaige unlautere Absichten des Hospitanten Bavaud zu durchschauen; dieser habe sich jedoch auch in des Majors Anwesenheit völlig locker verhalten. Man habe sich eben gar nicht vorstellen können, dass ein so korrekt gekleideter, anständiger, sanfter, ehrerbietiger junger Mann etwas Finsteres im Schilde führe; Attentäter habe man sich als dunkle, fanatische, eventuell glutäugige Individuen ausgemalt; und gar ein Attentäter aus der lieblich-harmlosen Schweiz –.
Der Vetter von Ehrenspeck, Adolf Ehrenspeck, der heute noch als Anwalt in Berchtesgaden tätig ist, hat Bavaud nicht kennengelernt, aber Willy hat ihm von der Geschichte erzählt. Auch ihm sei der Hospitant in keiner Weise verdächtig erschienen, und Attentate habe man sich generell nicht vorstellen können in dieser reinen Bergwelt. Sein Vetter sei übrigens nicht allzu gut angeschrieben gewesen bei der vorgesetzten Schulbehörde, weil er erstens nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beigetreten und zweitens, obwohl schon längst im heiratsfähigen Alter, immer noch ledig geblieben war; das sei übel vermerkt worden, einen anständigen Schulmeister habe man sich damals nur verheiratet vorstellen können, und nachdem sein Vetter mehrmals freundlich darauf hingewiesen worden sei, habe er dann doch noch geheiratet, und zwar standesgemäss, nämlich die Tochter eines Oberbergrates aus den nahen Salzbergwerken, eine ehemalige Schülerin, und sei diese Ehe mit Elfriede aber nicht glücklich geworden, weil sein Vetter eher ein Einzelgänger gewesen sei und für die Ehe nicht talentiert. Auf dessen Schulkarriere habe es sich nicht positiv ausgewirkt, dass er, obwohl unwissentlich und unwillentlich, in die Sache mit diesem Attentäter verwickelt gewesen sei, eventuell sei ein kleiner Verdacht an ihm hängen geblieben, weil schon andere Minuspunkte gegen ihn vorgelegen hätten.
Das Gymnasium gibt es immer noch, und Studienrat Schertl, der schon zu Bavauds Zeiten dort unterrichtet hat, ist immer noch im Amt und sagt, alles sei damals, 1938, ganz normal gewesen, nichts Ausserordentliches sei passiert in jenen Zeiten. Er hat deutsche Literatur, Altphilologie, Geschichte und Kunstgeschichte unterrichtet, damals. Gewisse Dichter seien in der Schule nicht behandelt worden, das empfinde er als ganz normal, auch ohne staatliches Geheiss hätte er keine Lust gehabt, Brecht, Thomas Mann, Alfred Döblin durchzunehmen. Juden habe man natürlich nicht im Schuldienst toleriert, auch Kommunisten nicht, das sei selbstverständlich gewesen. Er selbst sei politisch nicht engagiert gewesen, sondern habe sich ganz normal, wie andere Lehrer, verhalten.
Alles ganz normal, sagt Schertl nach jedem dritten Satz.
In der Geschichte habe man den Akzent mehr auf die Mythen-Forschung gelegt, zum Beispiel seien die Sagen rings um den Watzmann, den bekannten Berchtesgadener-Berg, ein beliebter Schul-Stoff gewesen, auch die Geschichte des Oktoberfestes habe dazugehört. Vor dem Unterricht habe die Schülerschaft mit dem Hitlergruss gegrüsst, und nur wenige seien nicht Mitglied der HJ gewesen, Kinder von Generälen etc., deren Eltern mit Verachtung auf die Nazis heruntergeschaut hätten.
Hitler-Bilder seien, soweit vorrätig, in jedes Zimmer gehängt und dafür die Kruzifixe entfernt worden, was allerdings die überzeugten Katholiken nicht als schön empfunden hätten, in dieser traditionell frommen Gegend, und so sei denn die Mutter eines Schülers, eine spinnerte Person, nachts durch ein Schulfenster eingestiegen und habe ein Hitler-Bild ab- und das Kruzifix wieder aufgehängt.
Der Zwischenfall habe für die Frau keine Weiterungen gebracht, weil man sie als deppert angeschaut habe, so was mache ein normaler Mensch nicht. Abgesehen davon habe stets eine gute Disziplin und tadellose Ordnung geherrscht zu jener Zeit, die Kinder von Göring und