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Tessiner Erzählungen. Aline Valangin
Читать онлайн.Название Tessiner Erzählungen
Год выпуска 0
isbn 9783038551454
Автор произведения Aline Valangin
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
«Fasziniert von der dörflichen Kultur ihrer Umgebung, sind Aline Valangin Bilder von seltener Leuchtkraft gelungen.» Deutschlandfunk
Viele dieser Erzählungen hat Aline Valangin in Comologno im Onsernonetal geschrieben, um sie ihren Gästen, zu denen etwa auch Ignazio Silone gehörte, vorzulesen und Abwechslung in die langen Abende im abgelegenen Bergdorf zu bringen.
Die Erzählungen spielen denn auch in einem engen Tessiner Bergtal. Aline Valangin ist eine genaue Beobachterin des Dorfes und seiner Bewohner, und ihre Geschichten erzählen von Schlaumeiern und Revoluzzern, von Trinkern und Außenseitern, aber auch von Frauen, die den Unbill und die Härten des Lebens am direktesten zu spüren bekamen und zu ertragen hatten. Sie sucht in den Erzählungen nicht das idyllische, verklärte Tessin, sondern die urtümlichen, wilden Leidenschaften, ihre Figuren sind wahr, intensiv und lebendig.
Als Ganzes bilden die Erzählungen ein packendes Sittenbild des Tessins der Dreißiger- und Vierzigerjahre, unbeschönigt, realistisch, virtuos.
Aline Valangin (1889–1986), aufgewachsen in Bern. Ausbildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Anwalt Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreißigerjahre empfing und betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin. Befreundet mit Ignazio Silone und in zweiter Ehe verheiratet mit dem Komponisten Wladimir Vogel. Ab 1936 lebte sie im Tessin in Comologno und Ascona.
Aline Valangin
Tessiner Erzählungen
Limmat Verlag
Zürich
Zu diesem Buch
Dort wo das Pedemonte, also das Hinterland zwischen Locarno und Ascona, ins Centovalli übergeht, gleich nach dem reizvoll gelegenen Ort Cavigliano, beginnt zur rechten Hand die schmale und kurvenreiche Straße, die ins Onsernonetal und fast bis zur italienischen Grenze führt. Das Onsernone ist arm. Die Hänge sind steil und eignen sich kaum für die Landwirtschaft. Das Tal besteht zumeist aus Wald und steinigem Boden. Die wenigen Gärten und Felder genügen nicht, um die Bevölkerung zu ernähren. Das Sprichwort gilt: Die drei Wunder des Tessin sind die Brücke von Melide, der Kirchturm von Intragna – und der Hunger des Onsernone …
Die Not zwang die Männer der Gegend stets, anderswo Arbeit zu suchen. Sie wanderten über die gute Jahreszeit aus. Zumeist als Bauarbeiter in die Schweizer Städte, aber auch nach Frankreich. Unterdessen besorgten die Frauen die wenige Landarbeit, hielten sich einige Ziegen, Schafe und Hühner (selten nur eine Kuh) und sichelten, auf den Knien kauernd, das spärliche Gras an den Hängen. Zu Weihnachten kehrten die Männer zurück und brachten, nebst Geld, auch viel Lärm und Unruhe in die Dörfer. Wohl hatte längere Zeit hindurch eine Heimindustrie im Tal geblüht und den Leuten einigen Wohlstand gebracht: durch das Flechten von Strohborten. Der Weizen, der auf den spärlichen Äckern reifte, lieferte sehr weiches Stroh. Dieses konnte vorzüglich zu Tressen verarbeitet werden, die sich gut bis nach Florenz hinunter verkaufen ließen. Auch die Männer halfen den Winter über bei dieser Arbeit. Die Leute saßen am Kaminfeuer gemütlich beisammen. Sie ließen die flinken Finger spielen und der Lust am Schwatzen und Lachen freien Lauf, wie ihre heitere Art dies verlangte. Als Japan mit weit billigeren Preisen auf dem Markt erschien, fiel die kleine Heimindustrie zusammen. Dies war schlimm genug für das Tal. Viel später wurde versucht, das Handweben für die Frauen einzuführen. Eine diplomierte Webmeisterin gab Kurse in Weben und Wollefärben. Auch schenkte der Kanton denjenigen, die dabei bleiben wollten, einen Webstuhl. In den Städten schuf man Absatzstellen für fertige Teppiche. Doch zeigte sich bald, dass das Weben diesen Frauen nicht entsprach. Sie waren es gewohnt, draußen zu werken, das magere Gras am Hang zu schneiden und in den Wäldern das Holz für den Winter zu sammeln. Das stundenlange Sitzen am Webstuhl, allein ohne Gefährtinnen, mochten sie nicht. Die meisten verkauften ihren Webstuhl. Damit war dieser Versuch der Selbsthilfe gescheitert.
Das vorletzte Dorf oben im Onsernone ist Comologno. Die Häuser stehen nahe beieinander. Sie sind mit Kalkfarbe getüncht: rosa, blau oder grün. Das Schwarz der langen Holzbalkone sticht ab von der Helle der Fassaden. Das Dorf, klein und bescheiden, besitzt etwas ganz Besonderes: den Palazzo della Barca. Er ist im Tessinband der «Bürgerhäuser der Schweiz» angeführt und zeugt vom Reichtum und vom guten Geschmack seiner Erbauer. Schon Bonstetten hat ihn in seinen klassischen «Briefen über die italienischen Ämter» beschrieben und gerühmt. Als Juwel in der Abgeschiedenheit dieses Tales.
Die Geschichte des Hauses ist interessant. Mitte des 18. Jahrhunderts wanderte ein junger Mann, Carlo Francesco Remonda, von Comologno nach Paris aus, um der Armut zu entkommen. Zu jener Zeit war es in Frankreich üblich, Schiffe, die zur vereinbarten oder möglichen Zeit nicht in ihren Bestimmungshafen einliefen, auf gut Glück öffentlich zu versteigern. Unser Auswanderer erstand ein solch überfälliges Schiff, dass dann doch noch mit Waren beladen eintraf und so seinem Besitzer ein Vermögen einbrachte. Damit zog Remonda einen schwunghaften Handel in Seidenbrokaten (wie sie in Paris gesucht waren) auf und machte gute Geschäfte. Aus einem später im Estrich des Hauses gefundenen dicken Buch konnte man entnehmen, dass der Glückliche mit einer höchsten und adeligen Kundschaft verkehrte. 1770, mit fünfzig Jahren, kehrte der wohlhabende Kaufmann in sein Heimatdorf zurück. Er ließ an bester Lage den Palazzo della Barca (benannt nach seinem «Glücksschiff») erbauen, stattete ihn mit den besten französischen Seidenstoffen und Möbeln aus und lebte darin bis zum Tode. Zudem veranlasste er, dass der alte schmale Saumpfad durchs Tal hinauf durch eine gute Fahrstraße ersetzt wurde. Remondas einzige Tochter soll einen einfachen Bauern vom Ort geheiratet haben, der angeblich im Essraum seine paar Kühe hielt. Auch später, so scheint es, wurde der Prachtsbau nicht seiner Schönheit und Würde gemäß bewohnt, bis wir ihn 1929 erwarben und in Stand setzten.
Viele Jahre habe ich den Sommer, gelegentlich auch den Winter, in der «Barca» verbracht: umgeben von Freunden und Gästen und mit den Einheimischen in gutem Kontakt. Die Comolognesi nannten uns die «Sciuri», im Gegensatz zur alten Herrschaft, die man als «Padroni» bezeichnet hatte. In der «Barca» habe ich zu schreiben begonnen. Da es im ganzen Tal keine Möglichkeit gab, sich zu vergnügen (kein Kino, kein Hotel, keine gemütliche Wirtschaft), fasste ich Dorfbegebenheiten in Erzählungen und las sie am Abend den Gästen vor. Sie gefielen und fanden bald in Zürich einen Verleger.
Diese Novellen (im Ganzen fünfzehn und in zwei Sammlungen erschienen) liegen vierzig Jahre zurück. Es handelt sich nicht um «wahre Geschichten» im strengen Sinne. Aber jede Episode ist entstanden aus Erfahrung und Wissen um die Eigenart dieser Menschen – ihre Freuden, Nöte und Leiden. Die Enge des Daseins, aber auch die befreiende Größe der Landschaft bilden gleichsam den Hintergrund. So beschränkt dieses Leben dem Außenstehenden erscheint – es genügt dennoch den menschlichen Leidenschaften.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich vieles im Onsernone und in Comologno verändert. Nicht nur die Männer wandern jetzt aus. Ganze Familien ziehen an den See hinunter, wo sie in den Fremdenorten Arbeit finden. Selbst die jungen Mädchen bleiben nicht mehr zu Hause. Auch sie haben ihre Stellen in Fabriken und Geschäften im Locarnese gefunden. Fast alle Weggezogenen haben ihre alten, oft baufälligen Häuser ausgebessert und mit Wasser, Strom, mit Badezimmer und Kühlschrank versehen. Wer immer kann, kehrt für die Ferien oder die Wochenenden in sein Dorf zurück. Die kleine Piazza steht dann voller Autos und überall geht es lebhaft zu und her. Auch verbringen viele Alte ihre letzten Lebensjahre im Dorf. So ist es den Leuten gelungen, sich die Heimat lebendig zu erhalten und ihrem Tal treu zu bleiben.
Ascona, im Spätherbst 1980
Das Testament
Die Sciora und die alte Teresa kramten im Estrich des Hauses herum. Immer noch kamen Truhen und Kisten zum Vorschein, die der Sciora neu waren und welche aus der Zeit der früheren Padroni, der echten Padroni, stammten. Die Teresa war gerne bei diesem Räumen dabei, denn im Geheimen glaubte sie, wie alle im Dorf, dass noch einmal ein Schatz ans Tageslicht gebracht würde. Sie hatte zwar schon jedes Winkelchen des großen Hauses ungezählte Male durchsucht und nie etwas Wichtiges gefunden, aber für sie war es trotzdem sicher: Ein Schatz war im Hause und fatal wäre es, wenn diese Sciora, diese Fremde, ihn finden sollte.