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Alles ist beseelt. Ashley Curtis
Читать онлайн.Название Alles ist beseelt
Год выпуска 0
isbn 9783905574043
Автор произведения Ashley Curtis
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
Wenngleich Ökomodernisten anerkennen, dass Menschen »materiell immer zu einem gewissen Grad von der Natur abhängig sein« werden und dass »selbst wenn eine vollständig künstliche Welt möglich wäre, sich viele von uns trotzdem dafür entscheiden [würden], mehr mit der Natur verbunden zu leben«21, mag ihre Vision eines »großen AnthropozänsA«22 auf so manchen dystopisch wirken.
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White und die Ökomodernisten haben ganz offensichtlich das gemeinsame Ziel, die Klimakrise einzuhegen. Allerdings könnten ihre Ansichten, wie und warum wir das tun sollten, nicht weiter auseinandergehen. Am klarsten zeigt sich dieser Gegensatz in ganz unterschiedlichen Reaktionen auf ein berühmtes Foto: Die Blaue Murmel.
Die Blaue Murmel ist eine Aufnahme mit Symbolcharakter. Es handelt sich um ein Foto vom Planeten Erde, geknipst aus einer Entfernung von 29 000 Kilometern von einem der Astronauten der letzten bemannten Mondmission. Das Bild hat eine starke Wirkung. Michael Pollan schreibt:
Der Anblick dieses »hellblauen Punkts«, der in der unendlichen schwarzen Leere des Weltraums hing, löschte die Landesgrenzen auf unseren Karten aus und machte die Erde klein, verletzlich, einzigartig und kostbar. […] Die Kraft dieser neuen Perspektive [diente] als Inspiration für die moderne Umweltbewegung sowie die Gaia-Hypothese, [die] Vorstellung, dass die Erde und ihre Atmosphäre gemeinsam einen einzigen lebenden Organismus bilden.23
Diesen hellblauen Punkt live und leibhaftig zu sehen (noch bevor das berühmte Foto entstand), bewirkte in Edgar Mitchell, einem Besatzungsmitglied der Apollo 14, eine mystische Erfahrung:
Und plötzlich begriff ich, dass die Moleküle meines Körpers, die Moleküle meines Raumschiffs und die Moleküle im Körper meiner Partner in einer uralten Generation von Sternen geformt und erzeugt wurden. [Ich verspürte] ein überwältigendes Gefühl des Einsseins, der Verbundenheit. […] Es war nicht »sie und wir«, es war: »Das bin ich! Das ist das Ganze, alles ist eins.« Und es war von einer Ekstase begleitet, einem Gefühl wie »O mein Gott, Wahnsinn, ja« – einer Erkenntnis, einer Offenbarung.24
White bestätigt die Wirkungsmacht des Bildes. Doch dann schwenkt er in eine ganz andere Richtung als Pollan oder Mitchell:
Nichts berührte den amerikanischen Geist mehr als die Reaktion unserer Astronauten auf den Anblick dieses Planeten vom Weltall aus; man sprach vom »Raumschiff Erde«. Ökologisch gesehen ist diese Metapher eigentlich furchterregend. Ein Raumschiff ist ein durch und durch menschliches Konstrukt, ausschließlich entworfen, um menschliches Leben zu ermöglichen, zu keinem anderen Zweck. Es ist kein Zufall, dass einige unserer Raumfahrer auf der Reise zum Mond aus der biblischen Schöpfungsgeschichte lasen: Schließlich ist die Schöpfung in der jüdisch-christlichen Tradition bis ins Detail auf menschliche Nutzung und Erbauung ausgelegt, zu keinem anderen Zweck. Diese Gleichgültigkeit gegenüber einer möglichen Autonomie in anderen Lebewesen hat unsere Art technischer Entwicklung stark begünstigt und so die Verschmutzung unserer Weltkugel maßgeblich angetrieben.
Die Raumschiffmentalität ist die Krone des desaströsen menschzentrierten Blicks auf die Natur der Dinge und die Dinge der Natur, und ihr heutiger Reiz besteht darin, scheinbar ökologische Lösungen anzubieten, ohne dass bestehende Vorstellungen geopfert werden müssten. Wir befinden uns in größerer Gefahr, als wir denken.25
Die Ansätze der Ökomodernisten und des Geo-Engineerings sind der Inbegriff dessen, was White als »ökologisch furchterregend« empfand, nämlich den Planeten immer expliziter in ein menschgemachtes Raumschiff zu verwandeln und dabei nach Lösungen zu greifen, ohne »bestehende Vorstellungen« opfern zu müssen. 1967 warnte White vor den möglichen Folgen solcher Eingriffe:
Was sollen wir tun? Bis jetzt weiß niemand eine Antwort. Wenn wir nicht beginnen, über die Grundtatsachen nachzudenken, werden unsere Teilmaßnahmen neue Rückschläge bewirken, die gefährlicher sind als jene, die sie kurieren sollen.26
Derlei mögliche Rückwirkungen, im ökomodernistischen Optimismus ausgeblendet, lagen für White auf der Hand; als Historiker und Experte für mittelalterliche Technik war er sich nur allzu bewusst, wie oft in der Technikgeschichte gute Absichten von Verkettungen unbeabsichtigter Nebenwirkungen verdrängt wurden.
Allerdings muss man kein Mittelalterforscher sein, um das zu erkennen; vertraute Technologien jüngerer Zeitalter bieten genügend Beispiele. Das Wunder der Mobilität, geschaffen durch Automobil und Flugzeug; der Traum von billiger und unerschöpflicher Kernkraft; günstige, massenproduzierte Artikel seit der Industriellen Revolution; der Anstieg landwirtschaftlicher Produktivität dank chemischer Dünger und Pestizide; die Effizienz von Monokulturen und fabrikartiger Viehhaltung; das Phänomen der Verbundenheit durch Internet und Smartphone – all das hat seine Kehrseiten: Umweltverschmutzung; überwältigende Erderwärmung; bedrohliche Bestände von Atommüll und -waffen; Massenkonsum auf der Basis geplanten Verschleißes und Neukauf anstelle von Reparatur, mit der Folge weltweit wachsender Berge giftigen Schrotts; erschöpfte Böden; versiegte und verschmutzte Grundwasservorräte; eine drastisch schrumpfende Artenvielfalt; und, inmitten der am stärksten vernetzten Gesellschaft aller Zeiten, bindungslose Einsamkeit. All das gibt kaum Anlass zu Optimismus hinsichtlich der noch weitreichenderen Eingriffe, die sich Fürsprecher des Geo-Engineerings ausmalen.
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White fragte: »Was sollen wir tun?«, und antwortete: »Bis jetzt weiß niemand eine Antwort.« Aber eigentlich hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung. Wir sollten »zu einer neuen Religion finden« – und damit meinte er wie gesagt nicht, zu einer anderen Konfession zu konvertieren, sondern uns von bestimmten grundlegenden Werten zu befreien, die zweitausend Jahre Christentum in unserer religiösen wie säkularen Kultur verankert haben. White hatte auch eine recht konkrete Vorstellung davon, wie diese neue »Religion« auszusehen hätte. In einem Artikel von 1973 benannte er es ganz klar: »Das religiöse Problem besteht darin, eine praktikable Entsprechung zum Animismus zu finden.«27
Man könnte meinen, jetzt sei es an der Zeit, White aus dem Fenster zu werfen. Denn sein »religiöses Problem« ist ein ziemlich großes – vielleicht sogar noch größer als die potenziellen Probleme, die entstünden, wenn die obere Atmosphäre mit Schwefeldioxid angereichert würde. Und dieses »religiöse Problem« ist so groß, weil sich die meisten unserer Zeitgenossen einig sind, wenn sie sich denn bei irgendetwas einig sind, dass Animismus eben nicht praktikabel ist. Animismus – die Erfahrung, dass neben nichtmenschlichen Tieren auch Pflanzen, Flüsse, Berge, Wolken, Sterne, Steine und Wetterlagen nicht leblose oder unbelebte Bestandteile der Welt sind, sondern wahrnehmende und erfahrende Wesen – bedeutet für die meisten von uns primitive Illusion, das naive »magische Denken« abergläubischer, unaufgeklärter, vorwissenschaftlicher Völker. Von dieser Warte aus betrachtet, haben wir uns nicht etwa vom Animismus gelöst, weil wir einfach eine Lebensweise vorgezogen haben, in der der Mensch als von der Natur getrennt und über sie herrschend gilt (obwohl vielleicht auch das zutrifft), sondern weil unsere mühsam konstruierte, gewissenhaft überprüfte Wissenschaft einfach recht hat und der Animismus nicht. Und deshalb, Dr. White, selbst wenn wir uns alle miteinander wieder dem Animismus verschreiben wollten, um so unser eigenes Leben zu retten, das unserer Kinder und das unseres Planeten, könnten wir das gar nicht – genauso wenig, wie wir plötzlich, um unser eigenes Überleben zu sichern, glauben könnten, die Erde bilde das Zentrum des Sonnensystems oder die Sterne blieben bis in alle Ewigkeit an ihren Punkten am Himmelszelt. Denn das ist einfach nicht so.
Dr. White, Ihre