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bei völliger Digitalisierung19.

      Behörden arbeiten allen Ernstes noch mit Papierformularen, denn Mehrarbeit ohne Nutzen ist für sie kein Kriterium: Eigene Mehrarbeit ist stets Legitimierung von mehr Mitteln und mehr Bedeutung, Mehrarbeit der »Untertanen« bleibt ohne Konsequenz. Ständig werden uns Daten abgenötigt, eben ohne Nutzen und Sinn, und daher als reine Schikane. Aber als Daten bei der Pandemieeindämmung nützlich hätten sein können, zählten nur die Vorbehalte, als ob die Auswertung anonymisierter Bewegungsdaten ein schlimmerer Eingriff wäre als der verordnete Hausarrest gesunder Bürger.

      Die Pandemie wäre die Gelegenheit zur Optimierung von Prozessen in Verwaltung und im Gesundheitssystem, für Innovation43 im Bereich digitaler Identität zur Vereinfachung des Lebens statt zur Überwachung. Die heutige Technik ermöglicht passgenaue Datenübermittlung nach gegebener Erlaubnis. Die ständige Aufnahme von Namen und Anschrift, die bei allen Interaktionen die volle Identität preisgibt, ist nur Ausdruck technischer Rückständigkeit. Denn letztlich geht es in den meisten Anwendungen gar nicht um die Übermittlung von Identitätsdaten, sondern um sicheres Erlaubnismanagement und den Schutz vor Datentäuschung.

      Das innovative Verbinden von anonymisierten Suchanfragetrends, Bewegungsmustern und Gesundheitsdaten würde die mittelalterlichen Methoden von Lockdown und nationalen Grenzsperren wohl auch bei wesentlich schwereren Pandemien ersparen. Noch sind die Erfahrungen schwer vergleichbar, aber die weniger starke Unterbrechung des Alltagslebens in Taiwan und Singapur wird zum Teil auf die viel höhere Kompetenz im Einsatz digitaler Werkzeuge zurückzuführen sein, nicht bloß auf »Überwachung» – als ob in Europa wesentlich mehr relevante Privatsphäre gegeben wäre.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 10

      14. Also doch nur ein weiterer Corona-Leugner?

      Ich habe selbst bereits im Februar in Artikeln davor gewarnt, das Coronavirus zu unterschätzen, als in Europa noch Sorglosigkeit herrschte. Der Eindruck hoher Letalität in Norditalien führte dann zu Panik. Panik ist die Angst, die zu spät kommt. Wenn man schon in Panik geraten möchte, dann so früh wie möglich.

      Zur guten Abschätzung von Letalitätszahlen braucht man ein möglichst kontrolliertes Umfeld; das unverstandene Seuchengeschehen in Italien eignete sich dafür nicht. Die Grundlage meiner Einschätzungen im Februar war daher das unfreiwillige Großexperiment auf dem Kreuzfahrtschiff vor Japan. Daraus ließ sich relativ bald eine Letalität errechnen, die nicht über der von schwereren Grippewellen liegt.

      Seitdem in Europa mehrheitlich verachtete Politiker den Grippevergleich bemühten, ist er zu einem Tabu geworden. Das ist genauso dumm, wie den Grippevergleich zum Abwiegeln zu nutzen: Grippe ist kein Schnupfen, sondern ein Komplex von Infekten ausgelöst durch laufend mutierende Viren, der in Gesellschaften mit langer Lebenserwartung wachsende Todeswellen bedeutet, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.

      Vor einer Pandemie mit Grippeähnlichkeit besorgt zu sein, ist richtig. RNA-Viren sind veränderlich, und eine neue Rekombination, die hohe Letalität (bei der Vogelgrippe z. B. 60 Prozent) mit hoher Infektiosität (R0 bei Masern z. B. 15) verbindet, ist nie auszuschließen – etwa durch lange Inkubationszeit, asymptotische Übertragung oder Spätfolgen. Im Nachhinein kann sich diese Sorge als nicht zielführend erweisen, weil jegliches Handeln irrelevant war – etwa weil die überwiegende Zahl an Mutationen keine Verschlimmerung der Lage bedeutet und die meisten Viren völlig harmlos, viele sogar gutartig sind.

      Der mediale Fokus auf Infektionszahlen ist weitgehend irrelevant, denn diese folgen den Tests und sind nicht nach relevanten Unterschieden aufgeschlüsselt, nämlich Alter und Komorbidität. Inzwischen hat sich das gesamte Konzept einer Reproduktionszahl als Trugschluss16 erwiesen: Ein epidemiologisches Kürzel, eine Heuristik wurde durch akademisch-mediales Überstrapazieren zur Richtschnur und kehrte damit geringen praktischen Nutzen zu großem praktischen Schaden um. Da es keinen Durchschnittsmenschen mit einem modellhaft vorhersehbaren Verhalten gibt, gibt es auch nicht die Reproduktionszahl an sich, sondern eine Ansteckungsdynamik, die sich von Individuum zu Individuum und Kontext zu Kontext unterscheidet. Hier liegt der Schlüssel, die zahlreichen Paradoxa aufzuklären, die bei diesem komplexen Problem wieder die Spaltung39 und die Blasen18 nähren.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 8, 9, 39

      15. Was können wir schon wissen?

      Wir wissen bei aktuellen Fragen angesichts der unglaublichen Aufmerksamkeit, des wütenden Politisierens und des heute unvermeidlichen Lagerdenkens stets frustrierend wenig. Abschließende Beurteilungen müssen manchmal eine Generation warten, oft länger, gelegentlich gelingt die Aufklärung niemals. Es ist daher auch sinnlos, beim Handeln auf Gewissheit zu warten. Wir können Handlungen, und dazu zählen auch Urteile, oft nicht an ihren Konsequenzen messen, denn deren Gewissheit kommt zu spät oder gar nicht. Immer wieder können wir aber Rückschau halten, um Fehler zu erkennen.

      Fehler sind nicht bloß Unterschiede zwischen Ergebnis und Intention. Ergebnis und Intention können übereinstimmen, und dennoch kann die Handlung ein Fehler gewesen sein: wenn Ergebnis und Intention nur korrelieren und nicht kausal verbunden sind. Diese Fehler sind oft die gefährlichsten, weil sie so leicht zu übersehen sind und wir dann nichts aus ihnen lernen. Politiker haben Maßnahmen gesetzt12, und die Ansteckungskurven haben sich verflacht. Politischer Erfolg oder Bestärkung der Lernunfähigkeit?

      Ergebnis und Intention können auch übereinstimmen, weil sich eine unwahrscheinliche Prämisse als richtig erwiesen hat. Die besten und wichtigsten Handlungen sind oft dieser Art: Erfolgreiche unternehmerische Entscheidungen, Abweichen von Dissidenten – die für eine Gesellschaft und Wirtschaft so wichtigen Minderheitenmeinungen38. Ein Erfolgsrezept ist das aber keines. Die meisten Unternehmer scheitern. Die meisten »Contrarians« sind Spinner. Unwahrscheinliche Ansätze sind meistens falsch, sonst wären sie nicht unwahrscheinlich.

      Erkenntnissuche verstärkt angesichts der Ungewissheit und Komplexität der Welt meist die Zweifel. Steigendes Wissen mindert die Ungewissheit kaum, oft entscheiden wir mit mehr Wissen nicht besser, sondern schlechter. Das ist kein Argument gegen die Vernunft, aber eines das erklärt, warum Denker und Macher selten aus demselben Holz geschnitzt sind. Macher benötigen Gewissheit. Gegen die Ungewissheit helfen Intuitionen. Können diese nicht greifen, weil der Kurs zu stark vom Bekannten und Anerkannten abweicht, dann helfen Interessen und Ideologien. Auch auf der Basis von falschen Prämissen gefundene Gewissheit kann zu zielführendem Handeln motivieren. Ist dieses Handeln dann ein Fehler? Ich halte solches Handeln für falsch, obwohl es im Resultat richtig ist. Ebenso kann man sich auf der Basis von richtigen Prämissen zu einem Handeln entscheiden, das letztlich nicht zielführend ist. Ich halte solches Handeln für richtig, obwohl es im Resultat falsch ist.

      Der schlimmste Umgang mit Ungewissheit ist derjenige, der von der Sorglosigkeit in die Panik kippt. Ungewissheit unterscheidet sich von Ignoranz. Ignoranz ist Desinteresse an der Welt, ob aus Fatalismus oder Bequemlichkeit. Ungewissheit erfahren wir erst in der Konfrontation mit der Realität. Das plötzliche Kippen von Ignoranz in Ungewissheit verunsichert, weil auf die Ungewissheit eben oft nicht gleich Gewissheit folgt, sondern meist weitere und wachsende Ungewissheit. Dann drängt es zu den falschen Gewissheiten, der Ungeduld, der Verachtung für Denker und dem Klammern an Interessen und Ideologien.

      Ignoranz ist manchmal sogar vernünftig und meistens besser als die Panik. Diese »rationale« Ignoranz erkennt die Opportunitätskosten des Versuchs, zu Gewissheit zu gelangen oder Ungewissheit zu schultern. Sie hält sich an einfache Regeln, an das selbst Überschaubare und direkt Beeinflussbare. Zum Glück drängt das Gemüt manche Menschen zu mehr und Größerem. Oft gehört dazu Selbstüberschätzung und Geltungsdrang. Zu unserem Unglück ist der politische Weg dazu bequemer als der unternehmerische.

      Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. Скачать книгу