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will ich in den folgenden Kapiteln nachgehen und brauche dafür einen etwas weiter gesteckten historischen Rahmen: Was wurde aus der christlichen Theologie seit der Aufklärung? Wie hat sie sich verändert inmitten der Veränderungen des Denkens und der Lebensverhältnisse in Europa? Wie steht es um ihre Fähigkeit, die realen Sorgen ihrer Zeit zum Thema zu machen? Mir scheint, wir brauchen einen Blick auf die gesamte Moderne, wenn wir erkennen wollen, was in der Geschichte zu den heutigen Schwierigkeiten beigetragen hat, und wenn wir herausbekommen wollen, wie unsere »fruchtlose« Theologie wieder fruchtbar werden kann.

      Das Paradigma, in dem sich die hier verhandelten Fragen ebenso wie unsere Zeit insgesamt bewegen, ist das der Transformation. Zwar beklagen sich viele Christinnen und Christen in Europa über den Stillstand in den Kirchen, doch tatsächlich befinden wir uns seit Längerem schon in einem tiefgreifenden Prozess der Veränderung. Kaum etwas, was heute das Bild des Christentums ausmacht, war vor hundert Jahren in den Kirchen bereits üblich, und kaum etwas davon wird am Ende dieses Jahrhunderts noch existieren. Manche denken dabei an Verfall und Niedergang, aber es ist durchaus möglich, darauf mit Hoffnung zu blicken. In jeder Transformation steckt beides.

      Als ich nach einem Bild für diese Prozesse suchte, dachte ich daran, dass man die Kirche – zugegebenermaßen etwas naturalistisch – mit einer Raupe vergleichen könnte: Diese Raupe, imposant, schillernd und in bestimmtem Licht sehr schön, hat sich über viele Jahrhunderte bestens von dem ernährt, was die Menschen ihr als »Zehnt« abzugeben hatten. Im 19. Jahrhundert erschienen die Veränderungen der Umwelt so bedrohlich, dass die Raupe sich verpuppte, um sich zu schützen. Wie tot, unveränderlich, starr überdauerte die Puppe lange Zeit. Seit den 1960er-Jahren – genauer: seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil – bekommt der Kokon Risse (drinnen rumorte es schon länger). Viel ist noch nicht zu sehen, der Panzer ist noch nicht gesprengt. Es braucht Zeit. Wie der Schmetterling einmal aussehen wird, wenn er seine Flügel ausbreitet, um loszufliegen, ist noch nicht erkennbar. Die Kräfte der Beharrung, die die Kirche in der alten, ausgetrockneten Hülle zurückhalten möchten, sind weiterhin stark. Auch die Angst vorm Fliegen ist noch immer groß. Und es ist durchaus möglich, dass das neue, transformierte Christentum in seinem alten Panzer steckenbleibt und verendet, bevor es sich daraus befreien kann.

      Auch Felix Wilfred sieht das Christentum in einem bedeutenden Prozess der Transformation. Für ihn stehen dabei ebenfalls hoffnungsvolle Aspekte im Vordergrund. So sieht er in den vielen Hundertausenden von Kirchenaustritten in Europa nicht unbedingt ein Zeichen des Verfalls, sondern hält es für möglich, dass sie bereits den Keim einer anderen Zukunft in sich tragen: »Was beispielsweise wie eine Abwanderung aus den Kirchen aussieht, könnte in Wirklichkeit eine Suche nach neuen Kirchen sein, die erst noch entstehen müssen und deren Beschaffenheit sich schwer voraussagen lässt« (17).

      In jeder Transformation steckt beides: Ende und Neubeginn. Um das zu erkennen, muss man sehen lernen wie Felix Wilfred: Er erblickt in einem Kirchenaustritt nicht bloß einen Abfall vom rechten Glauben, sondern auch – möglicherweise – die Suche nach etwas Neuem, das besser zu den Betreffenden passt und ihnen ermöglicht, mehr mit sich selbst übereinzustimmen.

      Um so sehen zu können und die Chancen, die in dieser Sichtweise liegen, zu entdecken, ist es allerdings unabdingbar, den persönlichen Entscheidungen der Menschen mit echtem Respekt zu begegnen. Es braucht ein Gespür für jenen Bereich in den Menschen, der absolut unverfügbar und jeder Kontrolle durch andere entzogen ist. Die Kirche hat sich oft über diesen Bereich hinweggesetzt, im Vertrauen darauf, das Wohlverhalten der Menschen auch ohne deren freie Zustimmung erzwingen zu können. Heute ist das nicht mehr möglich, denn die Kirche verfügt nicht mehr über die ent­sprechenden Machtmittel und wird sie auch nicht mehr wiedergewinnen.

      Das war ja mein Erlebnis als Kommunionkind: dass man mich vielleicht zur Anwesenheit im Unterricht anhalten, dass aber keine Macht der Welt mich dazu bringen könne, »gerne« dabei zu sein. Ob ich etwas gerne tat oder nicht, war allein meine Sache. Zumindest in dieser Hinsicht war ich frei. Und ich denke, diese Erfahrung machen – mehr oder weniger deutlich – alle Menschen in der Moderne.

      Ob das Christentum eine Zukunft hat, wird, so scheint mir, entscheidend davon abhängen, ob die Kirchen und christlichen Bewegungen begreifen, dass diese punktuelle Autonomie der Menschen nicht nur unhintergehbar, sondern vor allem auch etwas über alle Maßen Schätzenswertes ist – der Ort des Glaubens selbst. Wenn sie es nicht begreifen, werden sich die Menschen in der Zukunft anderen Gemeinschaften und Projekten zuwenden.

      Kapitel 2

      Alles ist Geschichte

      Die Entdeckung der Autonomie der Einzelnen, die – wie begrenzt sie auch immer sein mag – übergangen, aber nicht beseitigt werden kann, die Entdeckung, sich des eigenen Verstandes bedienen zu können und sich von niemandem vorschreiben lassen zu müssen, was man zu denken und zu empfinden hat – all das gehörte zum innersten Kern der Aufklärung, zum großen Aufbruch des westlichen Selbst­bewusstseins im 18. Jahrhundert.

      Die Vernunft war dabei zwar bedeutsam, aber nicht unbedingt das wichtigste Stichwort. Die meisten Aufklärer hielten vom Rationalismus so wenig wie vom Irrationalismus. Sie sahen den Philosophen der Aufklärung vielmehr als Kritiker, als jemanden, »der Vorurteile, Überlieferung, generellen Konsens, Autorität, kurz: alles mit Füßen tritt, was die meisten Geister versklavt, der es wagt, selbst zu denken«, wie es in der berühmten Encyclopédie von Diderot und d’Alembert heißt. Darin drückte sich – noch lange vor der Französischen Revolution von 1789 – ein bürgerlicher Stolz aus, der sich allmählich auch auf das gesellschaftliche Klima vor allem in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und den USA auswirkte: Was nur autoritär verordnet, aber nicht mit Argumenten begründet wurde, fand keine bereitwillige Zustimmung mehr, sondern traf auf Skepsis.

      Viele andere Themen hingen mit dieser Autoritätskritik zusammen und gruppierten sich darum herum: das Vertrauen auf Erfahrung und Experiment, die Abkehr von Magie und Wunderglauben, zunehmende Diesseitigkeit und Zweifel an der Totenauferstehung, die Überzeugung, dass sich alles entwickelt hatte und nicht einfach fertig vom Himmel fiel und also eine klar benennbare Ursache haben musste. (Und auch diese Punkte haben ihre eigenen Ursachen und Anfänge, etwa in den naturwissenschaftlichen Denkformen seit der Renaissance oder in dem aus England kommenden Deismus, der kein direktes Eingreifen Gottes in die Welt mehr für denkbar hielt.) Es fällt leicht, sich auszumalen, wie groß die Herausforderung für die Kirchen gewesen sein muss.

      Besonders wichtig wurde das Stichwort der Geschichte. In der Aufklärung wurde es gewissermaßen neu formatiert: als säkulares Konzept, fern von allen heilsgeschichtlichen Anklängen. In dieser Form veränderte es nach und nach das gesamte westliche Denken.

      Am Anfang stand Voltaire: Nach dem verheerenden Erdbeben, das 1755 die Stadt Lissabon fast völlig zerstörte und Zehntausende von Todesopfern forderte, protestierte der französische Aufklärer gegen die traditionellen Darstellungen der Geschichte, die noch fraglos davon ausgingen, dass alles in der Welt – auch Naturkatastrophen, Verfolgung, Krieg und Vergewaltigungen – im Grunde von Gott gewollt sei. Voltaire hielt es für empörend, das Weltgeschehen als Manifestation der göttlichen Vorsehung zu betrachten oder die Welt sogar, wie Leibniz, zur besten aller möglichen Welten zu erklären. In seiner Novelle Candide ließ Voltaire seinen Protagonisten in den Wirren nach dem Lissaboner Erdbeben seufzen: »Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen erst die anderen sein!« (30).

      Für Voltaire gab es keine überzeugende Antwort, wie man die Existenz Gottes, an die er anfangs noch glaubte, mit der Existenz des Leidens in Einklang bringen konnte – er ließ die Frage offen. Die Menschen hatten in seinen Augen nicht die Aufgabe, sich auf die Ewigkeit auszurichten, sondern die Welt zu einem Ort zu machen, an dem man gut leben konnte: »Il faut cultiver notre jardin« sind die abschließenden Worte Candides am Ende des Buchs: »Wir haben in unserem Garten zu arbeiten« (١٥٨). In seiner Philosophie de l’Histoire (»Geschichtsphilosophie« – von ihm stammt dieser Ausdruck) hielt sich Voltaire dementsprechend konsequent an empirisch fassbare Geschichtsdaten und Ursachenzusammenhänge. (Seine Hoffnung auf eine »natürliche Religion« schien ihm zuletzt ebenso wenig haltbar wie das Christentum, das er ohnehin ablehnte. Voltaire, schreibt

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