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48), in die wir hineingeboren werden, determiniert nicht nur die Auswahl von Objekten (d. h., sie legt fest, was aus der natürlichen Umwelt herausgegriffen und als Objekt erkannt werden kann bzw. soll), sondern sie bestimmt auch in hohem Maße die Qualität der Bedeutungen, welche diese Objekte (bzw. deren Bezeichnungen) für uns symbolisieren.

      Wie weiter oben bereits erwähnt: Allein der Umstand, dass wir in der Lage sind, einen bestimmten Bestandteil unserer Umwelt als „Stuhl“ zu klassifizieren (und damit aus der übrigen Umgebung auszugrenzen), setzt bereits die Angehörigkeit (oder Kenntnis) unseres Kulturkreises voraus: Wir müssen erfahren haben, wie andere Menschen im Hinblick auf ein derartiges Objekt handelten (nämlich: darauf sitzen) und dadurch für uns dessen Bedeutung definierten. Erst im Rahmen solcher Handlungskontexte konnten wir die Erfahrung machen, dass uns ein Stuhl die Möglichkeit zur Verrichtung von Tätigkeiten bietet, die im Sitzen ausgeführt werden können etc. Erst infolge derartiger Erfahrungen sind wir in der Lage, das Objekt „Stuhl“ mit Bedeutungen zu belegen, die es für uns zu einem Symbol (z. B. für körperliche Bequemlichkeit, hohe Handwerkskunst, technische Perfektion etc.) gemacht haben.

      Was für die Beziehung zu unserer Umwelt gilt, das gilt auch für die Beziehung zu uns selbst. So wie wir die Bedeutung von Umweltobjekten erst aus der Interpretation des Handelns anderer erfahren bzw. ableiten, genauso interpretieren wir auch das Handeln unserer Mitmenschen im Hinblick auf uns selbst und leiten daraus ab, was wir in den Augen der anderen „bedeuten“, bzw. als was wir für unsere Interaktionspartner erscheinen. „Wie die anderen Objekte, so entwickelt sich auch das ‚Selbst-Objekt’ aus einem Prozess sozialer Interaktion, in dem andere Personen jemandem die eigene Person definieren“ (Blumer 2015: 34).

      Selbst-Bewusstsein (im Sinn eines Bewusstseins unserer selbst) entsteht immer dann, wenn wir uns vom Standpunkt unseres Gegenübers aus betrachten und gleichsam für uns selbst zu einem Objekt werden: „Das Individuum wird nur dann zu einem selbstbewussten Subjekt, wenn es zuvor sich selbst zu einem Objekt geworden ist, so wie andere Individuen in seiner Erfahrung als Objekte auftauchen“ (Raiser 1971: 123). Sich selbst zu einem Objekt werden kann man nach Mead aber nur dann, wenn man zuvor ein anderer war, d. h., wenn man in der Lage war, (mental) in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und sich aus dessen Perspektive zu betrachten. Diese Fähigkeit zur Übernahme der Rolle eines anderen wird sehr früh erlernt. Zunächst übernimmt das Kind im Spiel die Rolle von ganz konkreten anderen. Das ist die einfachste Möglichkeit, sich selbst gegenüber jemand Anderer zu sein und sich von einer anderen Warte aus zu sehen.

      Das Kind schlüpft in die Rolle eines Anderen, indem es ganz einfach vorgibt, jemand Anderer zu sein, z. B. seine Mutter, ein·e Polizist·in, ein Arzt, sein·e Freund·in etc. In einem derartigen Rollenspiel lernt es, die Perspektive des·der jeweils vorgestellten Anderen zu übernehmen (es handelt im Hinblick auf sich selbst) und gewinnt dadurch „eine Orientierung seiner selbst gegenüber, in der es als ‚self’ bestimmter Art erscheint“ (Helle 1977: 85). Es lernt dadurch auch, mit welchen Erwartungen zu rechnen ist, und welche Reaktionen jeweils angemessen erscheinen.

      In einem weiteren Stadium ist das Individuum dann bereits in der Lage, sich zur gleichen Zeit vom Standpunkt mehrerer Anderer zu sehen.

      Mead verdeutlicht dies beispielhaft anhand des kooperativen Wettspiels, bei dem es im Sinn einer angemessenen Teilnahme darauf ankommt, dass „das Kind die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muss“ (Mead 1968: 196). Jedes kooperative Spiel „fordert von den einzelnen die Fähigkeit, sich selbst vom Standpunkt mehrerer anderer Positionen aus zu sehen“ (Helle 1977: 86). Im Akzeptieren- und Befolgen-Können von (Spiel-)Regeln schlägt sich genau diese (entwickelte) Fähigkeit nieder, die Haltung aller anderen (am Spiel Beteiligten) einnehmen zu können. Neuere Erkenntnisse über die evolutionären Wurzeln der kooperativen Kommunikation (Tomasello 2011: 183 ff.) bekräftigen diese frühen Beobachtungen von Mead.

      Diese Fähigkeit, sich zugleich aus der Perspektive mehrerer Anderer betrachten zu können, bezeichnet Mead als die Fähigkeit, die Rolle des verallgemeinerten (oder: generalisierten) Anderen einnehmen zu können. Sich in die Rolle dieses verallgemeinerten Anderen zu versetzen, meint also den Versuch, gedanklich auf die Haltungen der gesamten Gruppe Bezug zu nehmen. Dies geschieht, indem der Einzelne die Verhaltenserwartungen der jeweiligen Gruppenmitglieder verallgemeinert (generalisiert): Die anderen sind in seinem Denken und Handeln als ein man präsent: Er weiß, was man (üblicherweise) von ihm erwartet, er weiß daher auch, wie man (üblicherweise) in seiner Position bzw. Rolle zu handeln hat. Dadurch wird er sich selbst gegenüber nicht nur zu einem Objekt (und kann sein Verhalten einschätzen bzw. bewerten); er bemisst zugleich als handelndes Subjekt sein zukünftiges Verhalten an den (vermeintlichen) Erwartungen der anderen.

      Auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen bedeutet dies, dass die Haltungen und Einstellungen jener Gruppen, denen der Betreffende angehört, zu einer größeren Konfiguration zusammengefasst werden (Cardwell 1976: 119), der er sich gegenübersieht: „Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft“ (Mead 1968: 196). Der Einzelne sieht sich bzw. sein Verhalten vom Standpunkt all jener Gruppen aus, denen er angehört bzw. anzugehören trachtet.

      So kann sich jemand „z. B. als einen Mann betrachten, als jung an Jahren, als Student, als verschuldet, als jemanden, der versucht, Arzt zu werden, als aus einer unbekannten Familie kommend, und so weiter. In allen jenen Gelegenheiten ist er für sich selbst ein Objekt; und er handelt sich selbst gegenüber und leitet sein Handeln anderen gegenüber auf der Grundlage dessen, wie er sich selbst sieht“ (Blumer 2015: 34).

      Die Übernahme der Rolle Anderer (zunächst die konkreter Anderer und später die des verallgemeinerten Anderen) erweist sich nunmehr als zentraler Faktor bei der Entwicklung eines Selbst. Denn das Selbst einer Person ist nichts anderes als „die Weise, wie sie (die Person) sich selbst ihre Beziehungen zu anderen Personen in einem sozialen Prozess beschreibt“. Es „entsteht schrittweise und kontinuierlich und wird typischerweise immer komplexer, wenn das Kind mit einer größeren Vielfalt von Personen […] in Kontakt kommt. Konfrontiert mit unterschiedlichen Erwartungen, kann es durch Rollenübernahme sein eigenes Verhalten aus einer Vielzahl von Perspektiven22 betrachten und beurteilen und sowohl mit Bezug auf sich selbst als auch mit Bezug auf andere handeln“ (Stryker 1976: 263, 265 f.).

      Das Selbst erwächst also aus bestimmten Erfahrungen, die man in der Begegnung mit Anderen macht.23 Teile derartiger Erfahrungen verdichten sich schließlich zu „Etikettierungen“ (Cardwell 1976: 116), mit denen wir uns gewissermaßen selbst versehen, indem wir die Reaktionen Anderer auf unser eigenes Verhalten interpretieren. Charles Cooley spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Spiegel-Ich: Danach erlangen die Haltungen und Reaktionen Anderer auf „reflektierende“ Art und Weise Bedeutung für unsere Selbstdefinition. „Die Haltungen Anderer werden so reflektiert, als ob wir in einen Spiegel blickten und uns aufgrund dessen, was wir beobachten, selbst beurteilen“ (Cardwell 1976: 121). Die Vielzahl derartiger Spiegel steht gleichsam für die Vielzahl sozialer Interaktionen, im Rahmen derer wir jeweils „Bestandteile“ unseres Selbst erkennen bzw. zu erkennen glauben.24

      In diesem Sinn kann man sich das Selbst „als aus einem Satz unterschiedlicher Identitäten bestehend vorstellen. Identitäten sind verinnerlichte positionale Bezeichnungen bzw. Kennzeichnungen, die sich in sozialer Interaktion behaupten und bewährt haben. Sie sind diejenigen sozial anerkannten Personenkategorien, die man in einer Gesellschaft sein kann“ (Stryker 1976: 267). Wie das Selbst insgesamt, genauso dürfen aber auch dessen „Identitäts-Bestandteile“ nicht losgelöst vom jeweils vorhandenen sozialen Umraum gesehen werden. Nach Mead kann es nicht einmal eine scharfe Trennungslinie zwischen „eigenen“ und „fremden“ Identitäten geben, weil die jeweilige Identität des

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