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unvorhersehbar waren. Deshalb hatte Frau Lachmann ihr strengstens verboten, an der Reling herumzuturnen. Nur gut, dass der alte Solmsen immer auf seiner Bank saß und zum Fluss hinunterblickte. Er hatte zwar kein Telefon, aber eine sehr durchdringende Trillerpfeife, die jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Und die Leute wussten: Wenn Solmsen pfiff, dann musste etwas Ernstes passiert sein.

      Das Fenster zu Lolas Zimmer konnte man schon von Weitem erkennen, denn es war mit goldener Farbe ein Rahmen darum gemalt. Wenn Lola aus dem Fenster schaute und sich nicht bewegte, hätte man meinen können, jemand habe ein Bild an der Außenwand der »Erbse« aufgehängt.

      In der ersten Klasse war Lola von ihren Mitschülern noch dauernd gehänselt worden: weil ihr Hals so gräulich schimmerte, ihre Kleider so komisch aussahen, weil sie immer ein dickes Kissen auf ihrem Stuhl brauchte, damit sie die Lehrerin sehen konnte, und weil sie oft so seltsam vor sich hin brabbelte. Es gab genug Gründe, sich über Lola lustig zu machen, denn sie war einfach anders als die anderen. Aber da sie sich nie etwas daraus gemacht hatte, was die anderen über sie sagten, verloren die Mitschüler bald den Spaß daran und beachteten sie einfach nicht mehr. Auch der Klassenlehrerin fiel es schwer, Lola genauso zu behandeln wie ihre Mitschüler. Sie musste sich eingestehen, dass sie dem Mädchen einfach nicht so viel zutraute, weil Lola so klein war und sich so sonderbar benahm. Dabei fiel sie nie unangenehm auf und war auch keine besonders schlechte Schülerin. Das Rechnen bereitete ihr zwar große Mühe, denn dass beim Malnehmen von zwei bestimmten Zahlen immer das Gleiche herauskam, fand sie langweilig. Und auch der Sportunterricht machte ihr keinen Spaß, weil sie nicht so schnell laufen, nicht so hoch springen und nicht so weit werfen konnte wie die anderen Kinder. Sie dachte sich so oft wie möglich Entschuldigungen aus, die der Sportlehrer nie infrage stellte. Er war froh, wenn er nicht auf Lola achtgeben musste, denn so kam er mit dem Unterricht schneller voran. Aber Fächer wie Kunst, Deutsch oder Religion machten ihr Spaß. Dort wurden Fragen gestellt, die mit »Glaubt ihr, dass …« oder »Was würdet ihr tun, wenn …« anfingen. Dennoch konnte man nicht gerade sagen, dass Lola gerne zur Schule ging.

      Viel lieber saß sie neben dem alten Solmsen auf seiner Bank, hielt nach seinem Kutter Ausschau und dachte nach. »Meinst du, Papa erinnert sich noch an den Fluss? An das Rauschen und an die fischige Luft?«, fragte sie zum Beispiel, ohne den suchenden Blick vom Horizont abzuwenden. »Klar!«, antwortete der alte Solmsen dann. Ja, das waren die Momente, in denen Lola wirklich glücklich war.

      Bis eine Woche alles veränderte.

      Es war ein Sonntag im August, und der Himmel war blau, als Frau Lachmann ihrer Tochter einen Karton überreichte. »Überraschung!« Lola öffnete den Karton und blickte auf ein rotes Paar Sandalen. »Zieh sie an!«, sagte ihre Mutter, »wir werden heute etwas Besonderes unternehmen.« Lola sah ihre Turnschuhe mit den schwarz-weißen Schnürsenkeln lange an und schüttelte dann den Kopf.

      »Deine Schuhe sind dir doch zu klein geworden«, sagte Frau Lachmann, »und diese hier sind auch viel schöner.«

      »Sie haben aber Schnallen.«

      »Findest du nicht, du könntest mal was Neues ausprobieren?«

      »Nein.«

      Frau Lachmann nahm Lola den Deckel aus der Hand und schloss den Karton wieder.

      »Also gut«, sagte sie, »aber mach nicht so eine Schnute, wenn wir heute in den Zoo gehen!«

      »In den Zoo?!« Lola strahlte ihre Mutter an, kletterte auf einen Stuhl und fiel ihr um den Hals. »Dafür würde ich sogar ausnahmsweise die neuen Schuhe anziehen. Aber morgen trage ich wieder die Turnschuhe.«

      »Abgemacht.«

      Lola zog sich die Sandalen an und hüpfte auf dem Boot herum. Sie konnte es kaum erwarten! Das letzte Mal war sie vor über drei Jahren in den Zoo gegangen. Damals war Papa noch dabei gewesen. Er hatte sich vor dem Orang-Utan-Käfig die Mütze ins Gesicht gezogen, den Kopf nach vorne gestreckt und mit hängenden Armen, laut brüllend und auf der Stelle hüpfend die Affen nachgemacht, die sich genauso verwundert angesehen hatten wie Lola und ihre Mutter. Erst als Frau Lachmann ihm eine Banane gab, mit der er auf eine Bank hüpfte, waren alle in ein lautes Gelächter ausgebrochen. Ja, das war ein wunderschöner Tag gewesen, vielleicht sogar der schönste des ganzen Jahres.

      »Wann gehen wir endlich?«, fragte Lola alle paar Minuten, bis ihre Mutter sagte: »Wir werden gleich abgeholt.«

      »Abgeholt?? Aber wer holt uns denn ab?«

      »Kurt. Er ist sehr nett. Du wirst ihn mögen. Er ist Tierarzt. Er hat einen Hund, zwei Katzen und Hühner. Die legen richtige Eier, und er will uns ein paar mitbringen.«

      Lola war sprachlos. Ein Mann, den sie nicht kannte, kam, um sie und ihre Mutter abzuholen und in den Zoo zu gehen. Und er wollte Eier mitbringen. Das gefiel ihr überhaupt nicht. So was tun doch nur Papas! Sofort zog sie die Sandalen aus und ihre alten Turnschuhe wieder an.

      »Was hast du denn?«, fragte Frau Lachmann.

      Aber Lola gab keine Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte so ein komisches, mulmiges Gefühl. Und sie wollte unbedingt mit Papa reden. Deshalb lief sie in ihr Zimmer und schloss die Tür.

      »Papa, gleich kommt ein Mann, den ich nicht kenne. Der heißt Kurt. Du musst unbedingt auf Mama aufpassen. Sie kann doch nicht einfach mit einem Fremden mitgehen. Und dass er Eier mitbringen will, ist bestimmt nur ein Trick, weil ich die doch so gern esse. Ich will nicht, dass Mama ihm Sachen von mir erzählt! Das geht doch niemanden etwas an, ob ich gerne Eier esse oder nicht. Nur Mama und dich natürlich. Ich werde ihm einfach sagen, dass ich Eier nicht ausstehen kann. Vielleicht geht er dann ja wieder. Er muss ja irgendwohin mit den Eiern. Und dann können Mama und ich mit dem Bus zum Zoo fahren.«

      Es klopfte.

      »Lola, mach bitte auf. Kurt ist da. Er möchte dich kennenlernen. Und wir wollen doch gleich los.«

      Lola öffnete die Tür und machte eine finstere Miene. Neben ihrer Mutter stand ein großer Mann mit strahlend blauen Augen, einem weiten, bunt gemusterten Hemd und einem kleinen Päckchen in der Hand. Er roch nach Hund, und Lola fragte sich einen Moment lang, ob sie wohl nach Meerschweinchen roch. An seiner Hose hafteten unzählige kurze dunkle Haare. Er selbst hatte blondes Haar, das am Vorderkopf in die Höhe stand, als hätte er zu viel Wind abbekommen. An seinem linken Ohrläppchen glänzte ein silberner Ohrstecker in Form eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Er streckte Lola die freie Hand entgegen und beugte sich zu ihr herunter. »Hallo, gnädiges Fräulein. Ihr Chauffeur steht zu Diensten.« Er grinste breit. Sein Mund war so groß, dass das Grinsen von einem Ohrläppchen zum anderen reichte.

      »Sie können Ihre Eier behalten«, antwortete Lola, ohne ihm die Hand zu geben.

      »Lola!«, mahnte Frau Lachmann.

      »Das geht schon in Ordnung«, sagte Kurt und hielt Lola das kleine Päckchen vor die Nase. »Das ist für dich. Glücklicherweise sind es keine Eier, denn mein Auto ist als Eiertransporter untauglich. Es eignet sich höchstens als Rührei-Transporter.« Er lachte mit kräftiger Stimme. »Aber ich hoffe, das hier wird dir gefallen!«

      Lola rührte sich nicht. Kurt stellte das Päckchen auf einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer ab und sagte: »Dann wollen wir mal losfahren! Ich habe den Motor laufen lassen. Man weiß bei meinem Schätzchen nie, ob es wieder anspringt.«

      Schweigend folgte Lola den beiden an Land. Doch mitten auf dem Steg blieb

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