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href="#u63f97016-e3f1-553e-a861-4c3a0067585d">44. Blut

       45. Met

       46. Milch

       47. Wasser

       48. Nebel

       49. Schnee

      I.

      ALPHA URSAE MINORIS

       oder

      DER POLARSTERN

      IM KLEINEN BÄREN

      Der Polarstern ist der hellste Stern im Kleinen Bären und, wenn man es genau nimmt, ein Dreifachsternsystem, bestehend aus einem großen Stern mit zyklisch sich ändernder Helligkeit und seinen zwei Begleitern. Einer dieser Begleiter ist 17-mal weiter vom Hauptstern entfernt als die Erde von der Sonne und umkreist jenen in dreißig Jahren, während der andere in 2.400-facher Erde-Sonne-Entfernung für eine Umkreisung 42.000 Jahre braucht.

      Der Polarstern ist dem nördlichen Himmelspol am nächsten und nimmt, was die Helligkeit betrifft, den 48. Platz unter den Sternen im bekannten Universum ein. Er leuchtet 45.000-mal heller als die Sonne und hat die 45-fache Größe. Man sieht ihn das ganze Jahr über von jedem Ort der Nordhalbkugel aus an derselben Stelle. Als Navigationsstern hilft er Reisenden bei der Feststellung der Richtung. Um den Polarstern kreisen der Große und der Kleine Bär sowie weitere Sterne, deshalb hielt man ihn in alten Zeiten für das Zentrum des Himmels. Seine Entfernung zur Erde beträgt 432 Lichtjahre.

      1. Schnee

      Der Schnee lag so hoch, dass die Frau fast bis zum Knie einsank. Auch die Pelze, die sich um die muskulösen, mit Fellen umschnürten Beine flochten, störten beim Gehen. In einer Schulter der Frau klaffte eine tiefe Wunde, aus der ganz langsam Blut sickerte. Noch bevor die roten Tropfen den Boden erreichten, verschlang sie auch schon die blendende Weiße des Schnees.

      Die Frau war mutterseelenallein. Sie wusste, dass sich im Umkreis, den sie mit ihren Sinnen erfassen konnte, kein anderer Mensch befand. Sie hätte ihn sonst gewittert oder gehört. Ihr Zuhause hatte sie weit hinter sich gelassen. Sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste, konnte sich ausgezeichnet orientieren. Die anderen zu finden gehörte zu den Grundvoraussetzungen fürs Überleben, deshalb marschierte die Frau schon seit Tagen unbeirrbar nach Hause. Sie fühlte sich hungrig und erschöpft, doch sie durfte nicht anhalten. Schlaf hieß Tod.

      Rundherum nichts auszumachen, nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und Wölfe. Noch kamen sie nicht gefährlich nahe, drehten nur in einigem Abstand ihre Runden um sie. Die Nüstern der Frau weiteten sich, sie schnupperte schweigend die Luft, erfüllt von Grausamkeit und dem Instinkt, um jeden Preis zu überleben.

      Die Frau hatte keine Angst. Dieses Land war nie das ihre gewesen, hatte ihr niemals gehört. Ebenso wie ihr Leben.

      Die Frau wusste nicht, wie man trauert. Und auch nicht, wie man weint. Oder Erbarmen zeigt. Und auch nicht, wie man wartet oder hofft. Das Einzige, von dem sie etwas verstand, war zu kämpfen und zu leben. Sie konnte dem Wolf direkt in die Augen sehen, aus dem Atem und dem Herzklopfen schließen, wer stärker ist.

      Die Wölfe kamen immer näher, schlichen sich mit immer mehr Mut an. Sie sah ihre großen grauen Körper. Leises Knurren und blendendes Weiß.

      Die Frau hob einen großen Knüppel vom Boden auf, drückte ihn fest in ihrer gesunden Hand zusammen, atmete aus und hieb mit aller Kraft auf den am nächsten bei ihr stehenden Wolf ein.

      Es schneite immer stärker.

      2. Wasser

      Selija öffnete die Tür. Sonne und Schnee blendeten, sie hielt die Hände vor die Augen. Die Hälfte eines Fingers bedeckte ein Ring mit der Gestalt einer Schlange. An Silber mangelte es Selija nicht, ihr Mann Gondas brachte viel davon mit. Und bunte Glasperlen. Selija konnte bei den örtlichen Handwerkern Halsketten, Broschen oder Armreife für sich bestellen, wann immer sie Lust hatte. Und das tat sie auch – sollten doch alle sehen, dass es ihr an nichts mangelte. Sollten das doch nur alle denken.

      Selija rückte ihren Mantel zurecht. Der Pelz rutschte ihr runter, deshalb durchstach sie ihn voller Ärger mit einer Messingnadel und befestigte ihn am groben Wollstoff. Man sollte den Pelz nicht durchlöchern, aber was soll’s, sie würde ihn den Armen hinwerfen und sich einen neuen nehmen. Die Wagen ihres Mannes Gondas waren immer mit Pelzen gefüllt, die er von den Jägern der Gegend eingesammelt und zum Abtransport vorbereitet hatte. Selija durfte sich ohne zu fragen jeden Pelz nehmen, den sie gerade begehrte, Gondas war nie böse auf sie. Gondas war gut, Gondas beschützte sie, Gondas hatte einen Draht zu den Göttern, Gondas kehrte immer zu ihr zurück, Gondas war ein schöner Mann mit langem, strohfarbenem, auf dem Scheitel zusammengebundenem Haar, blauäugig wie alle unsere Männer, aber auch wieder nicht wie alle anderen, eine Narbe teilte Gondas’ Gesicht in zwei Teile. Gondas sagte, auf dem Weg nach Carnuntum hätten ihn Burgunden überfallen und ihm alles wegnehmen wollen, doch er, Gondas, und seine Leute hätten das nicht zugelassen, es habe fürchterlich geregnet und geblitzt, Gondas wusste selbst nicht, ob der Blitz oder das Schwert eines Burgunden sein Gesicht entzweigeschnitten hatte. Von dieser Reise kehrte Gondas lange nicht zu ihr zurück, er sagte danach, die Wunden seien lange nicht geheilt. Gondas war gut, Gondas hatte ihr einen großen Silberarmreif mitgebracht, der ihre Hand absinken ließ.

      Kirnis brachte mehr Brennholz, Selija wollte ihm sagen, es reiche jetzt, es sei schon heiß drinnen, aber Kirnis ließ sich nichts sagen, Kirnis war alt, er hatte schon im Haus von Gondas’ Eltern Feuer gemacht. Alle sahen, dass Kirnis zu alt zum Arbeiten war, aber das konnte man ihm nicht sagen, er tat, was er wollte, ging schweigend, ein alter Krieger, obwohl er schon lange kein Schwert mehr zu heben vermochte, nur drei Scheite, um Feuer zu machen. Seinen Wildschweinanhänger nahm er nie vom Hals, was immer auch geschah, als wäre er auch hier, am Feuer, auf den Schutz der Göttermutter angewiesen, wie im Kampf gegen die Germanen.

      Erst als sie das Blut sah, begriff Selija, dass sie sich in den Finger gestochen hatte. Sie leckte das Blut ab, warf einen Blick auf den Hof, um sich zu überzeugen, dass sich nichts geändert hatte. Die Sonne stieg immer höher, vermutlich schneite es zum letzten Mal. Selija holte tief Luft, sog den Schnee und die Kälte in die Lunge. Ihre Finger runzelten sich, Selija rückte den Pelz zurecht. Sie sollte die Tür schließen, die Hitze von drinnen und die schaudernde Kälte vermischten sich, wirbelten im Kreis um Selija; ihr gefiel dieses Leben nicht, das sie nicht im Griff hatte: Ihr Mann, Gondas, war gut, aber er hatte eine andere Frau mitgebracht.

      War mit ihr und mit der Narbe im Gesicht zurückgekehrt. Er war lange weg gewesen, hatte gesagt, die Narbe stamme von den Burgunden, und Selija glaubte ihm; wem sonst, wenn nicht ihm, hätte sie denn glauben sollen.

      Wenn er sich nach Carnuntum aufmachte, füllte Gondas die Wagen jeweils bis oben hin mit Pelzen, Honig, Bernstein. Von dort brachte er Silber, Kupfer, Blei und Zink mit; Selija wusste nicht, was das war, also ging sie hin und sah nach, bekam jedoch nichts Besonderes zu Gesicht, nur voll beladene Wagen. Er brachte auch Männer mit, jung, doch vom langen Fußmarsch ermattet – wenn man sie angriff und ihnen alles wegzunehmen versuchte, fingen Gondas und seine Männer die Überlebenden ein und banden sie an einem Wagen an oder verkauften sie, einige opferte man auch der Göttermutter.

      Er brachte Männer mit, jetzt aber hatte er eine Frau mitgebracht.

      Kirnis drängte sich an Selija vorbei durch die Tür, wohl schon ganz blind, ging langsam über den Hof davon; er war bei der Reise nicht dabeigewesen, ihn konnte sie nicht fragen.

      Das war noch gar keine Frau, sondern ein Kind. Er hatte sie auf dem

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