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blieben, „weil wir nicht wissen, was diese Mutationen, die auf der Welt unterwegs sind, uns da noch zumuten“, lässt nichts Gutes erahnen.

      Aber auch abseits der Pandemie fürchte ich, dass viele von uns sich daran gewöhnt haben, bestimmte Themen besonderer Tragweite als der üblichen wertgeleiteten politischen Abwägung entzogen zu betrachten und uns deshalb künftig leichter mit einem schlichten „Hört auf die Wissenschaft“ zu begnügen. Aber „die Wissenschaft“ wird es auch in Zukunft nicht geben, meistens bereits nicht auf der Ebene der Tatsachenaussagen, niemals aber auf der der Werturteile. Künftig werden diejenigen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft daher einen immensen Machtzuwachs erringen, denen es gelingt, ihre Deutung dessen, was „die Wissenschaft“ angeblich fordert, politisch durchzusetzen. Sind sie damit erfolgreich, sind unsere Gesellschaft und offenbar auch unsere Justiz bereit, sehr weit zu gehen oder zumindest mitzulaufen. Der Werkzeugkasten hierfür, dessen Gebrauch sich vor zwei Jahren fast niemand in unserem Land hätte vorstellen können, steht jetzt geöffnet auf dem Tisch. Bei der Bundestagswahl geht es daher auch um unsere Freiheit, weiter abwägen zu dürfen – und uns keine Imperative welcher Art auch immer aufzwingen zu lassen.

      How dare you?

      Eine „bildungspolitische Katastrophe“ sei es, wenn Kinder nicht Krippe oder Kita besuchten. Darüber schien sich das fortschrittliche Deutschland einig. Das war 2012, der Kulturkampf um das Betreuungsgeld tobte. Es ging um Ein-und Zweijährige – und um ihre Eltern, die sich gerne die Zeit nehmen wollten, die Betreuung ihrer Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren selbst zu organisieren. Den Kindern, die gerade laufen und ihre ersten Worte lernen, enthielte man so wichtige frühkindliche Bildung vor, hieß es damals. Und die Mütter dränge man in „verkrustete Rollenklischees“, so die einhellige veröffentlichte Meinung zu der als „Herdprämie“, „Bildungsfernhalteprämie“ und „Verdummungsprämie“ geschmähten staatlichen Wahl-Leistung.

      2020 und 2021 waren Kitas, Kindergärten, Schulen und Universitäten über Monate hinweg geschlossen. Kinder lernten deshalb teilweise nur notdürftig lesen und schreiben, vergaßen oft ihre wackeligen Deutschkenntnisse wieder oder brachen im schlimmsten Fall ohne Abschluss die Schule ab. Eltern, insbesondere Mütter, kamen immer wieder an ihre psychischen und physischen Belastungsgrenzen, viele reduzierten daher ihre Berufstätigkeit oder gaben sie ganz auf. Und das fortschrittliche Deutschland forderte – allen voran die Grünen, aber leider auch mit Unterstützung von Teilen meiner Partei – unter dem Banner „No Covid“ eine Verschärfung dieser Maßnahmen.

      Ich gehörte während der Pandemie zu denen, die das Glück hatten, prinzipiell im Homeoffice arbeiten zu können. Aber die Frage einer adäquaten Kinderbetreuung hatte ich so natürlich nicht gelöst – nicht einmal unter meinen eindeutig privilegierten Bedingungen mit Haus, Garten und Haushaltshilfe. Unsere jüngste Tochter war im Frühling 2020 gerade zwei geworden. Sie ließ mich keine fünf Minuten ungestört am Schreibtisch sitzen, maximal ein Telefonat, bei dem ich sie gleichzeitig auf der Schaukel anstieß oder zusah, wie sie den Schuhschrank ausräumte, war drin. Unsere damals Fünfjährige konnte ich mit schlechtem Gewissen hin und wieder 45 Minuten Peppa Wutz auf dem iPad gucken lassen, aber dann wollte sie garantiert wahlweise eine Süßigkeit / suchte ihren Badeanzug / stritt sich mit der großen Schwester. Lediglich mit der Achtjährigen kam ich langsam in Sphären, in denen eine 90-minütige Videokonferenz überhaupt denkbar war. Aber auch nur, weil wir das Glück hatten, dass sie wenig Hilfe beim Homeschooling brauchte und gerne liest.

      Substanzielle Arbeitszeit hatte ich nur dann, wenn ein Babysitter kam oder die Kleine mittags schlief und ich den beiden Großen gleichzeitig einen Film erlaubte. Zu meiner Bestürzung hat unsere Jüngste sich allerdings recht schnell nach Beginn der Pandemie ihren Mittagsschlaf abgewöhnt. Und so haben wir während des zweiten und dritten Lockdowns dankbar die Möglichkeiten ergriffen, die die stets um einen moderateren Kurs bemühte Hessische Landesregierung unter Volker Bouffier anbot, die Kinder dennoch in Kindergarten und Schule schicken zu können. In den Monaten Anfang 2021 beispielsweise, als in Hessen bis Klasse sechs lediglich die Präsenzpflicht ausgesetzt war, gingen an der staatlichen Grundschule unserer Töchter rund 70 Prozent der Kinder dennoch zur Schule – und erhielten dort dank eines wunderbar couragierten Kollegiums auch Unterricht. Aus anderen Wiesbadener Grundschulen weiß ich, dass dort teilweise über Wochen keinerlei Unterricht, lediglich reine Aufsicht stattfand. In einem Fall durften die Kinder noch nicht einmal Fragen stellen – sie sollten keinen Vorteil vor den Kindern zu Hause haben. Wochen später erfuhr ich, dass diese Regelung nun aufgeweicht worden sei: Die Kinder durften jetzt eine Frage pro Schulstunde stellen.

      Und so versuchten auch in meinem Umfeld viele Familien Monat für Monat in einem verzweifelten Kampf, Homeoffice und Homeschooling zusammenzubringen. Dabei ist dies, zumindest bei kleineren Kindern, fast unmöglich. Einige Eltern in meinem Bekanntenkreis stellten ihre Arbeitszeiten auf einen selbst gewählten Schichtbetrieb um: Sie arbeitete von 5 bis 13 Uhr, er von 13 bis 21 Uhr. Dass man das Familien über Monate hinweg und immer wieder zumutete und in Teilen der Politik offenbar die Vorstellung herrschte, die Kombination von Homeoffice und Kinderbetreuung bedeute, Kinder tagsüber in ihre Kinderzimmer zu schicken und mittags eine Packung Fischstäbchen reinzuwerfen, werden Eltern sicher so schnell nicht verzeihen.

      Am schlimmsten habe ich dabei dennoch nicht meine eigene Belastung empfunden, sondern die Tatsache, dass ich den Bedürfnissen unserer Kinder immer weniger gerecht werden konnte und durfte. Vor allem nicht denen unserer beiden größeren Kinder, die Kleine war noch in dem Alter, in dem ihr die Geborgenheit bei ihren Eltern und Schwestern, mit einem gelegentlichen Supermarktbesuch als Highlight, völlig reicht. Aber je älter Kinder werden, umso mehr Lern- und Entwicklungsimpulse von außerhalb benötigen sie. Ich bin keine Lehrerin, ich kann Unterricht nicht wirklich gut ersetzen, erst recht nicht bei unserer mittleren Tochter, die im Sommer 2020 eingeschult wurde. Ich konnte auch die wachsende Frustration über das tägliche stupide Ausfüllen von Arbeitsblättern immer weniger abfangen, zumal ich ja dann auch oft in die Videokonferenz eilen und die Kinder im gelangweilten Streit um den schönsten Radiergummi alleine lassen musste.

      Und erst recht konnte ich Schule als Lebensort nicht ersetzen, wo man Freundschaften schließt, sich streitet und verträgt, das Pausenbrot tauscht, unterschiedliche Persönlichkeiten bei Kindern und Erwachsenen kennenlernt und eine streng geheime Abkürzung auf dem Schulweg entdeckt. Nachmittags fielen Ballett und Reiten über viele Monate hinweg aus und auf meinen Versuch, in den wenigen Wochen, in denen die Schwimmbäder geöffnet waren, einen Schwimmkurs zu ergattern, wurde mir beschieden, dass auf der Warteliste 250 Kinder vor uns stünden. Hätten unsere beiden großen Töchter nicht die in diesem Alter ungewöhnliche Vorliebe, mit mir zusammen joggen zu gehen, hätten sie während der Pandemie fast keinen Sport gemacht.

      Dabei hatten unsere Kinder noch Glück, denn sie sind noch keine Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mein Eindruck ist, dass – neben den besonders betroffenen Branchen – sie es waren, die am härtesten unter den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu leiden hatten. Denn was ihnen über bisher 16 Monate genommen wurde, ist eigentlich alles, was diese Lebensphase für die meisten Menschen zur prägendsten ihres Lebens macht: Das Theaterstück, das eine Klasse über Monate einstudiert und im Rahmen des Schulfestes vorführt. Das Betriebspraktikum in der nächsten größeren Stadt. Das gemeinsame Training, auf dem Bolzplatz oder in der Schwimmhalle. Die Oberstufenfahrt nach Berlin oder Rom. Die Feier des Schulabschlusses. Das Jahr im Ausland, das viele seit Jahren geplant und herbeigesehnt hatten. Die Erstsemesterpartys, auf denen nicht selten Freundschaften fürs Leben entstehen. Die erste Vorlesung, bei der ein wortgewaltiger Prof mit Begeisterung und Hingabe die grundlegenden Fragen seines Fachs skizziert. Die Lerngruppe, die sich in der Seminarbibliothek findet, die sich gegenseitig durch Strafrecht I, Produktion und Absatz II und Statistik III bringt und selbst die eine oder andere tragische Liebesgeschichte in ihren Reihen übersteht.

      Überhaupt, die Liebe in Zeiten von Corona. Wer sie noch nicht gefunden hat, wie die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, für den dürften die zäh, aber unnachgiebig verstreichenden Monate der Pandemie besonders bitter gewesen sein. Im Klassenchat oder mit Tinder auf ihrem Bett liegend verbrachten viele Jahrgänge Abend für Abend einer Lebensphase, von der ihnen Ältere oft mit glänzenden

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