Скачать книгу

      

      Mesut L.

       Wedding 65, dritter Hinterhof

image

       Originalausgabe

      © 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

      [email protected]; www.jugendkulturen-verlag.de

      Alle Rechte vorbehalten

      1. Auflage Juli 2021

       Vertrieb für den Buchhandel:

      Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

       Privatkunden und Mailorder:

       https://shop.hirnkost.de/

      Layout: Manuel Süess, Zürich / www.msueess.com

      Fotos: Maximilian Gödecke / www.max-goedecke.de

      Lektorat: Klaus Farin, Gabriele Vogel

       ISBN:

      PRINT: 978-3-948675-90-5

      PDF: 978-3-948675-92-9

      EPUB: 978-3-948675-91-2

      Dieses Buch gibt es auch als E-Book –

      bei allen Anbietern und für alle Formate.

      Unsere Bücher kann man auch abonnieren:

       https://shop.hirnkost.de/

image

       Der Autor

      Mesut L., geboren 1978 in Berlin-Wedding. Zweitjüngstes von vier Kindern einer alleinerziehenden türkischen Gastarbeiterin. Breakdancer der ersten Stunde. Überlebender diverser Schicksalsschläge.

      Inhalt

       Wedding 65, dritter Hinterhof

       Nachdem meine Eltern verstorben waren,

      fahre ich nach Yozgat. Ich will einen Rückbezug zur Familie, den Anfang des Fadens finden. Meine ältesten Tanten leben noch; eine ist 86, die andere sogar schon 90 Jahre alt, und sie können sich noch gut an die Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnern. Ich gehe in die Archive und finde tatsächlich Einträge über unsere Ländereien: Hab und Gut, alles ist aufgeführt. Mit meinen Papieren in der Hand will ich wissen, was damit passiert ist. Was mich besonders erstaunt: Der Führungsrat, den sie damals gewählt hatten, weil er das Alphabet und somit den Stift beherrschte, ist heute Multimillionär! Lebensmittelfabriken, Kuhweiden, Kornfelder … Auf seinem Fabrikgelände zähle ich allein 20 riesige LKW. Hier wird der in der ganzen Türkei berühmte Käse und Joghurt namens mandıracı hergestellt, benannt nach mandıra, der schönsten Milchkuh. Vor dem Dorfcafé treffe ich seinen Urenkel – mit schönem Hemd und schönem Audi.

      »Hallo, grüß dich, mein Partner«, begrüße ich ihn.

      Im selben Moment spüre ich den Schweiß an seinen Händen. Alle zehn Finger schweißnass!

      »Wie kommst du darauf?«, fragt er. »Wie kannst du mich Partner nennen?«

      Ich antworte, unsere Partnerschaft käme nicht von uns beiden, sondern schon von unseren Großvätern.

      »Wenn dein Großvater noch lebte, würde ich gern mal seine Hand küssen.«

      Das ist unsere traditionelle Art, den Älteren Respekt zu zollen, weil sie länger auf der Welt sind und mehr gebetet haben. Dem konnte er nicht widersprechen. Wir gehen alle zusammen – ich mit drei, vier Cousins, die mich begleiten, und er mit seinem Vater und einigen anderen seiner Leute – in das sehr alte, aber schöne und saubere Dorfhaus. Nach der Begrüßungszeremonie – Salam Aleikum, Friede sei mit euch, hayırlısı, wir kommen in guter Absicht – stelle ich mich vor. Nachdem der ältere Herr gehört hat, wer der Besuch ist, sagt er nur: »Es ist Gebetszeit«, steht auf und verlässt den Raum. Nicht mal ein Glas Wasser hat er uns angeboten. Ich will niemanden schlechtreden, aber in unserer Tradition bietet man einem Besucher das Beste an, was man hat, und wenn es das letzte Stück Brot ist. Okay, sagen wir uns, es ist wohl besser, wenn wir gehen. Die Leute werden unruhig, die Situation fühlt sich komisch an. Ich schaue mich um, vielleicht 50 Personen stehen um uns herum. Wir steigen ins Auto, fahren los, und nach 50 Kilometern werden wir vom Militär angehalten. Von A bis Z wird alles durchsucht. Sie finden nichts, machen uns aber eine Spezialansage, sofort auf direktem Weg wieder nach Istanbul zu fahren.

      Auf der Strecke vor uns fährt ein Reisebus, der kleine Steinchen aufwirbelt, die gegen meine Frontscheibe fliegen. Ich vergrößere den Abstand. Hinter mir fährt ein Kleintransporter, der das wohl komisch findet, nach links ausschwenkt, um mich und gleich auch noch den Reisebus zu überholen, und dann wieder nach rechts einschwenkt. Dabei gerät er mit bestimmt 150 Stundenkilometern in eine Riesenpfütze, kracht Wam! gegen irgendetwas, überschlägt sich zwei Mal und bleibt auf der Fahrbahn liegen. Der Reisebus kann gerade noch ausweichen, ich auch. Ich will stehenbleiben, aber die anderen Fahrer meinen, ich solle weiterfahren, um bei fließendem Verkehr nicht gleich einen zweiten Unfall zu verursachen. Im Rückspiegel sehe ich, dass tatsächlich andere Autos langsamer werden, anhalten und sich kümmern. Ich denke, vielleicht ist dieser für uns glückliche Ausgang die Folge einer guten Tat von uns, vielleicht auch die eines Gebets eines Älteren, vielleicht hat uns eine höhere Macht beschützt. Die Unglückswolke war schon über uns – wir hätten verunglücken oder im Dorf gelyncht werden können –, aber Gott sei Dank sind wir davongekommen.

      Mein Name ist Mesut L. und ich bin ein geborener Kurd’ – einfach Kurd’, ohne Helm und ohne Gurt. Soweit ich selbst recherchieren konnte, beginnt meine Familiengeschichte im Osmanischen Reich. Meine Familie stammt ursprünglich aus Yozgat, einem Ort in der Mitte der heutigen Türkei zwischen Ankara und Sivas. Der Erzählung nach waren meine Urgroßväter als Generäle im Balkanbereich eingesetzt, wo sie sich in einem Dorf namens Ravsa nahe der türkischen Grenze ansiedelten. Trotz der massiven staatlichen Unterdrückung ging es ihnen recht gut; sie waren Großbauern mit Hunderten Kühen, Schafen, ein Riesenbauernhof halt. Eines Tages kamen Einsatzkräfte des Militärs und drohten, dass sie sie töten und alles niederbrennen würden, wenn sie nicht innerhalb von drei Stunden das Land verlassen würden. In derselben Straße gab es noch 35 andere Familien, die ebenso betroffen waren. Als die Soldaten kamen, warf ein Mann einen Stein auf einen der Kommandeure, woraufhin die Lage im Dorf eskalierte. Die Leute waren verzweifelt. Was können wir tun? Wir haben versucht, uns zu verteidigen, aber nun ist schon Blut geflossen. Von den 35 Familien packten 28 ihre Sachen und sagten, wir gehen zur Mutter, in unser Vaterland. Aber wo ist unser Mutterland, unser Vaterland?

      Als diese 28 Familien an die Grenze des Vaterlandes kamen, wurden sie gefragt: Was hast du bisher gemacht? Der eine antwortete: Ich bin Schreiner. Der Grenzbeamte sagte: Okay, ab jetzt ist dein Name Schreiner. Ein anderer sagte: Ich bin Maurer. – Okay, dann heißt du ab jetzt Kemal Maurer. Mein Großvater sagte: Ich war Bauer, Großbauer, und daraufhin gab ihm die türkische Regierung den passenden Nachnamen. Aus welchen Gründen auch immer, allen wurden neue Nachnamen zugewiesen.1 Nicht nur das, sie waren auf einmal auch Analphabeten. Sie kannten nur die arabische Schrift, aber Atatürk hatte inzwischen das lateinische Alphabet eingeführt.

      So wie meinen Vorfahren erging es vielen Türken nach dem Ersten Weltkrieg – nicht nur auf dem Balkan, auch in

Скачать книгу