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der plötzliche Weltschmerz, der Hader mit Gott, den jeder hier oben kannte und der ohne ersichtlichen Grund kam und ging, war geblieben. Er hatte sie angeflogen wie ein dunkler Schmetterling.

      Erst als sie in das Esszimmer trat, wußte sie, woher er kam. Das Zimmer war fast voll, und an einem Tisch in der Mitte saß Eva Moser, umringt von einem halben Dutzend ihrer Freunde, vor sich einen Kuchen, eine Flasche Champagner und Geschenke in buntem Papier. Es war ihr letzter Abend. Am nächsten Nachmittag sollte sie abfahren.

      Lillian wollte zuerst umkehren; dann sah sie Hollmann. Er saß allein neben einem Tisch mit den drei schwarzgekleideten Südamerikanern, die auf den Tod Manuelas warteten, und winkte ihr zu.

      »Ich habe Giuseppe heute gefahren«, sagte er.

      »Haben Sie es gesehen?«

      »Ja. Hat jemand sonst Sie noch gesehen?«

      »Wer?«

      »Das Krokodil? Oder der Dalai Lama?«

      »Niemand. Der Wagen war an der Übungswiese geparkt. Da kann man ihn nicht sehen. Und wenn schon! Ich bin glücklich. Ich glaubte schon, ich könne die verdammte Karre nicht mehr fahren.«

      »Kommt Clerfayt heute abend nicht?« fragte sie.

      »Nein. Er hat heute nachmittag überraschend Besuch bekommen. Wozu soll er auch immer heraufkommen? Es muß langweilig sein für ihn.«

      »Warum fährt er dann nicht weg?« fragte Lillian ärgerlich.

      »Er fährt; aber erst in ein paar Tagen. Mittwoch oder Donnerstag.«

      »Diese Woche?«

      »Ja. Ich nehme an, er wird mit seinem Besuch hinunterfahren.«

      Lillian antwortete nicht.

      »Und mit wem reiße ich denn von nun an abends aus?«

      »Da sind doch genug. Und Clerfayt ist ja auch noch hier.«

      »Ja. Und nachher?«

      Lillian stand auf. »Ich werde schlafen gehen.Gute Nacht, Hollmann.«

      »Ist irgend etwas los, Lillian?«

      »Nichts als das Übliche. Langeweile.

      Die Nachtschwester hatte ihre Abendrunde beendet. Lillian saß auf ihrem Bett und versuchte zu lesen. Wieder lag die Nacht vor ihr. Es klopfte. Charles Ney stand draußen in einem roten Schlafrock und Pantoffeln. »Alles ist klar«, flüsterte er. »Komm rüber zu Dolores!

      Abschiedsfeier für Eva Moser.«

      »Wozu? Warum geht sie nicht? Wozu muß sie noch Abschied feiern?«

      »Wir wollen eine Abschiedsfeier. Nicht sie.«

      »Ihr habt doch schon eine im Esszimmer gehabt.«

      »Nur um die Schwester zu täuschen. Komm, sei keine Trauerweide[21]

      »Ich habe keine Lust.«

      »Komm, Lillian! Wenn du hier bleibst, wirst du dich ärgern, allein zu sein – wenn du drüben bist, wirst du dich ärgern, hingekommen zu sein. Es ist also dasselbe – komm deshalb!« Er öffnete die Tür. »Alle kommen! Zieh dich an und komm!« »Ich ziehe mich nicht an. Ich komme in Pyjamas!«

      »Komm in Pyjamas, aber komm!«

      Dolores Palmer wohnte ein Stockwerk tiefer als Lillian. Sie lebte dort seit drei Jahren in einem Appartement, das aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und einem Bad bestand. Sie bezahlte die höchste Miete des Sanatoriums.

      Lillian sah sich um. Es war ein Bild, das sie kannte. Sie waren wie Kinder, die heimlich zu lange aufbleiben. Dolores Palmer trug ein chinesisches Kostüm, ein langes Kleid. Sie war von einer tragischen Schönheit, die sie selbst nicht empfand. Ihre Liebhaber gingen daran irre wie Reisende an einer Fata Morgana.

      Eva Moser saß neben dem Fenster und schaute hinaus. Ihre glückliche Stimmung war umgeschlagen. »Sie weint «, sagte Maria Savini zu Lillian. »Was sagst du dazu?«

      »Warum?«

      »Frag sie selbst; du wirst es nicht glauben. Sie hält dies für ihr Zuhause.«

      »Es ist mein Zuhause«, sagte Eva Moser. »Hier bin ich glücklich gewesen. Hier habe ich Freunde. Unten kenne ich niemand.«

      »Was soll ich werden?« jammerte Eva Moser jetzt in voller Panik. »Sekretärin? Wer nimmt mich schon? Ich kann nur schlecht Schreibmaschine schreiben.«

      Lillian betrachtete Eva. Sie hatte auch früher schon Patienten gesehen, die entlassen worden waren und behauptet hatten, lieber bleiben zu wollen. Aber Eva Moser war ein anderer Fall; sie meinte, was sie sagte. Sie war ehrlich verzweifelt. Sie hatte sich an das Sanatorium gewöhnt. Sie hatte Angst vor dem Leben unten.

      »Ich gehe«, sagte Lillian. »Ich kann das nicht aushalten.«

      »Geh nicht!« sagte Charles Ney und beugte sich zu ihr. »Bleibe noch! Wir brauchen dich. Sing etwas, Lillian!«

      Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und das Krokodil stand im Rahmen.

      »Das habe ich mir doch gedacht! Zigaretten! Alkohol auf dem Zimmer! Eine Orgie! Sogar Sie dabei, Fräulein Ruesch!«

      Lillian zog die Vorhänge zu. Da war die Panik wieder! Sie suchte nach den Schlaftabletten. Einen Augenblick glaubte sie, draußen Clerfayts Motor zu hören. Sie sah auf die Uhr. Er hätte sie retten können vor der langen Nacht; aber sie konnte ihn nicht anrufen.

      Hatte Hollmann nicht gesagt, er habe Besuch? Von wem? Von irgendeinem gesunden Frauenzimmer aus Paris oder Mailand oder Monte Carlo! Zum Teufel mit ihm, er fuhr ohnehin in ein paar Tagen ab! Sie schluckte die Tabletten.

      5

      Der alte Mann lag in einem schmalen Bett in einem schmalen Zimmer. Neben dem Bett stand auf dem Nachttisch ein Schachbrett.

      Er hieß Richter. Er war achtzig Jahre alt und lebte seit zwanzig Jahren im Sanatorium. Er war das Renommierstück[22] des Sanatoriums. Man wies stets auf ihn, wenn es mutlose Patienten gab. Lillian saß an seinem Bett. »Sehen Sie sich das an!« sagte Richter und zeigte auf das Schachbrett. Regnier ist während des Krieges gekommen, 1944 glaube ich.

      Das war eine Erlösung! Vorher – meine liebe junge Dame – vorher habe ich ein Jahr lang gegen einen Schachklub in Zürich gespielt. Wir hatten niemanden hier oben, wer gut Schach spielen konnte. Es war sehr langweilig.«

      Schach war Richters einzige Leidenschaft. Zwei Freunde aus Deutschland, mit denen er brieflich gespielt hatte, waren in Russland gefallen; ein anderer wurde bei Stalingrad gefangengenommen. Ein paar Monate lang war Richter ganz ohne Partner gewesen; er hatte sogar Gewicht verloren. Dann hatte er gegen Mitglieder eines Schachklubs in Zürich per Telefon gepielt.

      Doch das war zu teuer. Dann hat er Briefe geschrieben. Er konnte nur jeden zweiten Tag einen Zug machen, da die Post so lange dauerte.

      Und wenn Regnier gekommen war und eine Partie mit Richter gespielt hatte, war Richter war froh, endlich wieder einen würdigen Gegner zu haben.

      Aber Regnier, ein Franzose, der in einem deutschen Gefangenenlager war, wollte nicht mehr weiterzuspielen, als er hörte, daß Richter Deutscher sei. Beide langweilten sich; aber keiner wollte nachgeben. Ein Neger aus Jamaica fand schließlich eine Lösung. Auch er war bettlägerig. In zwei Briefen lud er Richter und Regnier zu je einer Schachpartie mit sich ein, von Bett zu Bett, über das Telefon. Die einzige Schwierigkeit war, daß der Neger Schach nicht spielen konnte. Er selbst hatte nicht einmal ein Brett, da er ja nichts weiter tat, als Regnier und Richter, ohne daß sie es wußten, gegeneinander spielen zu lassen.

      Kurz nach dem Ende des Krieges starb der Neger. Das Krokodil übernahm jetzt die Rolle des Negers, damit die Partien weitergingen, man hat ihnen gesagt, daß der Neger wegen einer Kehlkopftuberkulose[23] jetzt nicht mehr sprechen konnte. Das ging gut, bis Regnier wieder aufstehen konnte. Er wollte als erstes den Neger besuchen und fand so alles heraus.

      Inzwischen

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<p>21</p>

Плакса

<p>22</p>

Предмет особой гордости

<p>23</p>

Туберкулёз гортани