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      Aus der Praxis

      I. Kapitel

      In dem elegant eingerichteten Wartezimmer des Dr. Friedrich Kahler blätterte eine schwarzgekleidete, dichtverschleierte Dame bereits seit einer Stunde in dem großen, zum allgemeinen Gebrauch niedergelegten Album. Die hastige, zuckende Bewegung ihrer Hände, die Art, wie sie den hinter der Portiere des ärztlichen Studierzimmers verschwindenden Patienten nachblickte, verriet eine gewisse Spannung; auch konnte ein scharfes Auge die Erregung ihrer bald erblassenden, bald hocherrötenden schönen Gesichtszüge durch die Schwärze des verhüllenden Spitzenschleiers schimmern sehen. Der letzte vor ihr angekommene Patient wurde soeben durch den Gehilfen des Arztes mittelst eines kräftigem ›Herein!‹ in das Sprechzimmer gerufen; die junge Dame saß allein. Sie schloss das Album, beugte seufzend den Kopf, schenkte sich alsdann ein Glas Wasser ein und setzte es, ihren Schleier lüftend, mit zitternden Händen an die Lippen. Ihr schwer atmender Busen ließ auf ein Lungenleiden schließen, obgleich ihre Wange eine völlig gesunde Farbe trug. Indes schien ihr das kalte Wasser nicht zu behagen, der kleine Schluck, den sie genommen, ließ sie zusammenschauern, sie setzte das Glas auf den Tisch, stand auf und ordnete vor dem prächtigen, goldumrahmten Spiegel ihre ein wenig exzentrische, von einer seltsamen Phantasie zeugende Kleidung, wobei es auffallen musste, wie wenig weibliche Anstelligkeit sie besaß. Als sich jetzt die Türe öffnete, um einen neuen hilfesuchenden Patienten einzulassen, schlug die Dame sofort ihren Schleier über ihre fein geformten Züge, benahm sich aber im Übrigen so ungeniert, als befände sie sich zu Hause.

      »Guten Tag,« sagte der neue Ankömmling, ein älterer, militärisch aussehender Herr, der den Arm in einer Binde trug. Die Dame räusperte sich, blätterte in dem Album und schwieg.

      Da sich nun unter dem Rufe: ›Herein!‹ die Türe des ärztlichen Studierzimmers öffnete, wollte der neue Ankömmling, wie es ihm, dem später Erschienenen ziemte, der Dame den Vortritt lassen, diese sagte jedoch mit einer singenden Stimme und nicht ganz dialektfreien Aussprache:

      »Bitte, gehen Sie nur —«

      »Aber Sie kamen doch vor mir?« wandte der Herr bescheiden ein.

      »Tut nichts – ich warte,« sagte die Dame, sich unbehilflich verbeugend und an den ihr, wie es schien, ungewohnten Glacee-Handschuhen zupfend.

      Der Herr folgte dem Diener, indes die Verschleierte, die sich wieder allein sah, durch das Fenster hinab auf den Schlossplatz blickte, woselbst gerade das Musikcorps des Garderegiments einen Kreis formierte. Bald schmetterten die champagnersprühenden Töne eines Strauß’schen Walzers heraus, schienen jedoch die Nerven der Dame, anstatt sie zu besänftigen, nur noch mehr zu überreizen, wenigstens zog sie ihre schwarzen, ungemein delikat gezogenen Augenbrauen finster zusammen und murmelte einige unwillige Bemerkungen. Die goldene Pendüle, die vor dem Spiegel prunkte, zeigte gleich 4 Uhr; um vier Uhr pflegte Dr. Kahler seine Sprechstunde zu beenden, und als sich nach einiger Zeit der militärische Herr mit dem Arm in der Binde durch eine Hintertüre, die man laut erknarren hörte, entfernte, vernahm die Dame, wie der Gehilfe des Arztes die Türe des Sprechzimmers von innen schließen wollte. Sie räusperte sich, so laut sie vermochte; der junge Gehilfe, aufmerksam gemacht, öffnete noch einmal, streckte den Kopf durch die Portiere und sagte, als er die Anwesende bemerkte:

      »Ach! Verzeihen Sie – der Herr Doktor muss um halb 5 an die Bahn – eine schwierige Operation in Frankfurt —«

      Aber sein Herr unterbrach ihn mit der aus dem Sprechzimmer dumpf herausschallenden Frage:

      »Noch jemand hier?«

      Der Gehilfe verschwand, bis er nach einiger Zeit wieder erschien.

      »Bitte, treten Sie ein,« sagte er zu der nun sichtlich zitternden, hocherregten Dame.

      Als die Portiere sich hinter ihr rauschend geschlossen, sah sich unsere Freundin einem schwarzbärtigen Herrn gegenüber, der von einem Buche, in das er Notizen gemacht hatte, aufsah und die Zigarre aus dem Munde nahm, die das ohnehin düstere Gemach mit bläulichem Nebel erfüllte.

      »Bitte, setzen Sie sich,« sagte er, auf einen Stuhl deutend, der vor einem riesigen, mit Hörrohren und andren Apparaten bedeckten Tische stand. Die Dame nahm allen ihren Mut zusammen, räusperte sich und setzte sich, während der Arzt in einem wissenschaftlichen Buche blätternd frug, mit was er dienen könne.

      Die Töne eines Regimentsmarsches schmetterten jetzt lauter denn zuvor an die Scheiben des Zimmers, wodurch die Dame augenscheinlich in eine noch peinlichere Verlegenheit versetzt wurde, sie begann mehrmals einen Satz, brach ab, begann einen neuen und beugte den Kopf schließlich in so tödlicher Verlegenheit auf die Brust herab, dass Dr. Kahler sich mitleidig zu ihr hinüberneigte.

      »Ist Ihnen unwohl?« frug er höflich besorgt, »Sie haben wohl starken Kopfschmerz, bitte, vertrauen Sie mir Ihr Leiden getrost an—«

      »Mein Herr, erlauben Sie, dass ich mich Ihnen zuerst vorstelle: Fräulein Emma Pöhn,« stieß die Dame hervor, richtete dann den Kopf mit Würde in die Höhe und hatte nach kurzer Anstrengung sogleich ihre Fassung in einem solchen Grade wieder gefunden, dass der Arzt es für nötig fand, sich erstaunt ein wenig in seinem Strohsessel zurückzubeugen.

      »Ich bin durchaus gesund,« fuhr die Dame fort, nun einen kühlen, imponierenden Ton affektierend, der auch nicht verfehlte, eine verblüffende Wirkung auf den Doktor hervorzubringen, »durchaus gesund,« lächelte sie, »und Sie werden erstaunen, nenne ich die Ursache, die mich hierhergeführt.«

      Der Arzt nickte bestätigend, als sei er darauf vorbereitet zu erstaunen. Sie lächelte, strich ihr Kleid glatt und wartete, bis eine rauschende Fanfare des Regimentsmarsches verklungen war, dann begann sie, während der Arzt ungeduldig mit einem Bleistifte spielte, von neuem:

      »In meiner Lage befand sich wohl noch kein Weib, seit die Welt existiert,« sagte sie so gelassen als möglich, »wenngleich man behauptet, es gäbe nichts Neues unter der Sonne. Sie sehen, ich bin über die allerersten Jugendjahre hinaus, dennoch bin ich gezwungen zu heiraten. Ja, mein Herr, gezwungen! Ich verabscheue die Ehe und komme nun in die Lage, mir einen Mann zu suchen! Ich fühle, dass ich edler handeln würde, dies nicht zu tun.«

      Da sie nun schwieg, sah ihr der Arzt prüfend in die Augen, doch sie, diesen unzweideutigen Blick ignorierend, starrte längere Zeit düster vor sich nieder und zuckte erst, als der Regimentsmarsch plötzlich schwieg, wie aus einem bösen Traume erwachend empor.

      »Sie sind ein Mann von Erfahrung, haben sich bereits einen Namen gemacht,« sagte sie in ihrer etwas singenden, gedehnten Weise, »ich denke, ich brauche mich vor einem berühmten Manne nicht anders zu zeigen, als ich bin. Sie werden mich für wunderlich halten, wenn ich mich Ihnen zeige, wie ich bin.«

      »Gewiss nicht,« murmelte der Arzt, das gespannt prüfende Auge nicht von ihren Gesichtszügen entfernend, »reden Sie unumwunden.«

      »Ich setze mich über die Meinung der Welt hinweg,« fuhr sie ruhig fort, »ich tat es von jeher, schon vor dem Tode meines Vaters, und werde es immer tun, ich verachte die Meinung der Welt. So hören Sie denn, ich lege Ihnen eine seltsame Frage vor.«

      Sie hielt einen Augenblick inne, als beschwere sie der Tabaksdunst und fuhr in geschäftsmäßigem Tone fort, der indes ihre innerliche Erregung kaum zu bemänteln imstande war:

      »Haben Sie unter Ihren Patienten einen womöglich armen Mann, einerlei von welchem Alter, der an einer Krankheit leidet, die ihm kein langes Leben mehr gönnen wird?«

      »Es wird sich wohl ein solcher finden lassen,« sagte der Arzt, von dem ein gewisser Verdacht wich, den er betreffs des Geisteszustandes Fräulein Pöhns gehegt, »aber bitte, reden Sie weiter – wenn hier ein Werk der Mildtätigkeit —«

      »Gewiss nicht,« fiel ihm Fräulein Emma hastig in die Rede, »ich will mich nicht besser machen, als ich bin; mein Zweck ist ein ganz und gar egoistischer, total egoistischer. Wollten Sie mir die Adresse dieses Kranken – doch ich vergesse,« unterbrach sie sich, »der Kranke muss unverheiratet sein–«

      Der Arzt lächelte ein wenig ironisch, schüttelte den Kopf und streifte die schöne Seltsame wieder mit seinem zweifelnden prüfenden Seitenblick.

      »Unverheiratet?« sagte er zögernd.

      »Allerdings,« erwiderte Fräulein Emma Pöhn, dem Blick des Arztes mit einer gewissen herausfordernden Scheu begegnend, »doch ich glaube, Sie

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