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habe noch genug für mich.“

      Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte es im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.

      „Danke“, sagte er.

      Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. „Weshalb bist du eigentlich unterwegs?“ fragte Kern zögernd. „Du bist doch kein Jude!“

      Steiner schwieg eine Zeitlang. „Nein, ich bin kein Jude“, sagte er endlich.

      Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. „Ein Hase oder ein Kaninchen“, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. „Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.“

      Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht.

      Nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Seine Notdurft musste er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mussten so vorsichtig sein, dass sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.

      „Weiß Marie es?“ fragte Steiner in der ersten Nacht.

      „Nein. Das Haus ist bewacht.“

      „Ist ihr etwas passiert?“

      Der Freund schüttelte den Kopf und ging.

      Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, dass er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriss er ihn. Er wusste nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus; aber er wurde schwach. Es war zwei Jahre her, dass er seine Frau gesehen hatte. Er ging zum Wochenmarkt. Nach einer Stunde kam sie. Er fing an zu zittern. Sie ging an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Er folgte ihr, und als er dicht hinter ihr war, sagte er: „Sieh dich nicht um! Ich bin’s! Geh weiter! Geh weiter!“

      Ihre Schultern zuckten, und sie warf den Kopf zurück. Dann ging sie weiter. Aber es war, als wäre sie nur noch ein einziges Lauschen nach rückwärts.

      „Hat man dir etwas getan?“ fragte die Stimme hinter ihr.

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Beobachtet man dich?“

      Sie nickte.

      „Jetzt?“

      Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.

      „Ich gehe jetzt gleich. Will versuchen, durchzukommen. Ich kann dir nicht schreiben. Es ist zu gefährlich für dich.“

      Sie nickte.

      „Du musst dich von mir scheiden lassen.“

      Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.

      „Du musst dich von mir scheiden lassen. Du musst morgen hingehen. Du musst sagen, dass du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewusst. Hast du es verstanden?“

      Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.

      „Versteh mich doch“, flüsterte Steiner. „Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du musst dich scheiden lassen – dann lassen sie dich in Ruhe!“

      Die Frau antwortete nicht.

      „Ich liebe dich, Marie“, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung. „Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?“

      Nach einer Ewigkeit, schien ihm, nickte die Frau.

      „Versprichst du es mir?“

      Die Frau nickte langsam. Ihre Schultern sanken zusammen.

      „Ich biege jetzt ab und komme den Gang rechts herauf. Geh links herum und komme mir entgegen. Sprich nichts, tu nichts! Ich will dich nur noch einmal sehen. Dann gehe ich. Wenn du nichts hörst, bin ich durchgekommen.“

      Die Frau nickte und ging rascher.

      Steiner bog ab und ging die Gasse rechts hinauf. Sie war eingesäumt von den Buden der Schlächter. Frauen mit Körben feilschten vor den Ständen. Das Fleisch glänzte blutig und weiß in der Sonne. Es roch unerträglich. Die Schlächter schrien. Aber plötzlich versank alles. Das Hacken der Beile auf den Holzklötzen wurde zum feinen Dengeln von Sensen. Eine Wiese war da, ein Kornfeld, Freiheit, Birken, Wind und der geliebte Schritt und das geliebte Gesicht. Ihre Augen fassten sich und ließen sich nicht los, und in ihnen war alles: Schmerz und Glück und Liebe und Trennung, das Leben schwankend hoch über ihren Gesichtern, voll und süß und wild, und der Verzicht, das rasende Kreisen der tausend flimmernden Messer.

      Sie gingen und standen still zugleich, und sie gingen und wussten es nicht. Dann stürzte die Leere grell in Steiners Augen, und erst nach einer Weile unterschied er wieder die Farben und das Kaleidoskop, das sinnlos vor seinen Augäpfeln abrollte und nicht eindrang.

      Er stolperte weiter, dann ging er rasch, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Er stieß die Hälfte eines geschlachteten Schweines von einem mit Wachstuch belegten Tisch, er hörte das Schimpfen des Schlächters wie das Rasseln einer Trommel, er lief um die Ecke der Budengasse und blieb stehen.

      Er sah sie fortgehen vom Markt. Sie ging sehr langsam. An der Ecke der Straße blieb sie stehen und drehte sich um. So stand sie lange Zeit, das Gesicht etwas emporgehoben, die Augen weit offen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und drückte sie gegen ihren Körper. Steiner wusste nicht, ob sie ihn sah. Er wagte nicht, sich ihr noch einmal zu zeigen. Er ahnte, dass sie vielleicht zurücklaufen würde zu ihm. Nach einer Weile hob sie die Hände und legte sie um ihre Brüste. Sie hielt sie ihm hin. Sie hielt sich ihm hin. Sie hielt sich ihm hin in einer schmerzvoll leeren, blinden Umarmung, den Mund geöffnet, mit geschlossenen Augen. Dann wandte sie sich langsam ab, und die Schattenschlucht der Straße verschluckte sie.

      Drei Tage später kam Steiner über die Grenze. Die Nacht war hell und windig, und der Mond stand kreidig am Himmel. Steiner war ein harter Mensch, aber als er die Grenze überquert hatte, nass von kaltem Schweiß, drehte er sich um und sagte wie irrsinnig in die Richtung, aus der er kam, den Namen seiner Frau.

* * *

      Er nahm eine neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.

      „Wie alt bist du?“ fragte Steiner.

      „Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.“

      „So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?“

      Kern schüttelte den Kopf.

      Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: „Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?“

      „Ja.“ Kern drehte sich um. „Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.“

      „Dann

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