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die Augen und sagte in einem leichten Singsang:

      »Du füllst Auen aus den Quellen,

      sie fließen zwischen saftig grünen Berghängen dahin.

      Die Tiere des Feldes trinken,

      wilde Esel löschen ihren Durst.«

      »Saftig grün, ist das deine Erfindung?« Raimund sah auf den Text auf der Wachstafel. »Das steht jedenfalls nicht in der Vulgata. Kommt das im hebräischen Text vor?«

      Abrupt öffnete Chaim die Augen und blickte auf das Buch vor sich auf dem Pult. »Nein, das steht nicht dort. Aber ich finde, es klingt so schön und man kann sich die Tiere des Feldes und die wilden Esel auf den grünen Hängen besser vorstellen.«

      »Mhhh. Ich weiß nicht.« Raimunds Stirnfalten zogen sich zusammen. »Ich finde nicht, dass wir etwas hinzudichten sollten.«

      »Du bist ja mal wieder richtig pedantisch!«, erwiderte Chaim unwirsch, wobei jedoch ein Lächeln seine Lippen umspielte.

      »Es ist Gottes Wort, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, antwortete Raimund ernst. »Aber lass uns einen Kompromiss schließen. Ich setze eine Klammer um saftig grün, dann können wir das später entscheiden, wenn wir den gesamten Psalm niedergeschrieben haben.«

      Raimund nahm einen Griffel aus seinem Wams. Das eine Ende war zugespitzt und das andere abgeflacht. Mit Letzterem rieb er vorsichtig über das weiche Bienenwachs auf der rechten Innenseite der Mappe und die Schriftzeichen verschwanden. Dann drehte er den Griffel um und ritzte mit dem spitzen Ende den Text, den Chaim gerade vorgelesen hatte, in die Fläche ein. Sanft zog die Griffelspitze durch das weiche Wachs und die Buchstaben reihten sich in akkuraten Strichen und perfekten Bögen aneinander.

      Kritisch betrachtete Raimund das Geschriebene und reichte Chaim die Wachstafel. Der nickte wohlwollend beim Lesen und gab sie Raimund schließlich mit anerkennendem Blick zurück.

      »Lass uns weitermachen.«

      Raimund schaute auf die linke Seite der Mappe und las: »Im nächsten Vers heißt es: Super ea volucres caeli habitabunt de medio petrarum dabunt voces. Wie lautet es im Hebräischen?«

      Das Tappen von Schritten riss die beiden Gelehrten aus ihrer Arbeit.

      Auf einem Acker nahe Gerstendorf

      Schier endlos schob sich der Menschenzug auf dem Treidelpfad dahin und immer mehr Gestalten strömten hinter dem Hügel hervor. Doch waren es kaum noch stolze Ritter auf Pferden mit ihren Knappen. Es waren Bauern mit Sensen und Spießen, Ochsenwagen, beladen mit Kisten, Säcken, Gänsen und Hühnern in ihren Käfigen. Mütter zogen ihre Kinder inmitten von Schweinen und Ziegen hinter sich her, Hunde rannten durch die Menge. Dazwischen schienen ein paar Mönche zu singen und zu tanzen.

      Staunend beobachtete Peter das Treiben. Was für ein Schauspiel bot sich da direkt vor seinen Augen!

      Sein kleiner Bruder Bernhard kam über den Rücken des Hügels gelaufen. Er hielt einen Korb in den Händen. »Peter, Peter! Mutter hat mich geschickt. Ich bring dir das Essen.«

      Peter zeigte in Richtung des Treidelpfades. Für einen Augenblick blieb Bernhard stehen. Mit offenem Mund betrachtete er die Menschenmassen, rannte zu seinem älteren Bruder und zog ihn an der Hand. »Komm, komm, schnell nach Hause.«

      »Das sind die kämpfenden Wallfahrer, die ins Heilige Land ziehen«, bemerkte Peter wissend. Er lächelte seinem Bruder zu. »Wollen wir uns die Jerusalempilger zusammen anschauen?«

      Peter spürte den Druck von Bernhards Fingern in seiner Handfläche. Der Blick seines Bruders schweifte entlang des Rheins, dann schaute er Peter mit unsicheren Augen an. Der lächelte beschwichtigend. »Schau auf diese Menschen. Sie ziehen den weiten Weg in den Orient, weil der Herr der Kirche es von ihnen verlangt hat.«

      Bernhard blieb bei seinem Bruder.

      Sie inspizierten den Korb, den die Mutter für Peter gefüllt hatte. Ein halber Laib Brot war dort zu finden, eine große geschälte Zwiebel, zwei Äpfel, fünf Karotten und eine Tonschale mit Butterschmalz. Peter riss ein kleines Stück Brot ab und gab es Bernhard, nahm anschließend ein großes Stück für sich selbst, fuhr damit durch das weiche Schmalz und biss genussvoll hinein. Bernhard linste auf den kleinen Lederbeutel an Peters Gürtel. Der lachte, öffnete ihn und gab Bernhard eine Pflaume. Schmatzend lutschte sein kleiner Bruder an der dunkelblauen Frucht.

      Bernhard lehnte sich an Peter an, der den Arm um ihn legte. Eng angeschmiegt saßen sie da. Peter spürte, wie das Auf und Ab des Brustkorbs seines Bruders langsam ruhiger wurde, die körperliche Nähe tat auch ihm gut.

      Wie ein langer Wurm schlängelte sich die Prozession auf der anderen Seite des Rheins den Pfad entlang. Peter vergaß all die Köstlichkeiten, die Mutter für ihn mitgegeben hatte. Gemeinsam winkten sie den Menschen zu. Das ein oder andere Bauernkind erwiderte ihren Gruß.

      Oder wollten sie die beiden zu sich winken? Riefen sie etwa: »So kommt doch mit, ihr zwei!« Oder war dies nur Peters Wunsch? Jerusalem, die Heilige Stadt. Peter war es, als wollten seine Füße den Berg hinunterlaufen. Bernhards Interesse richtete sich dagegen immer mehr auf den offenen Lederbeutel. Er stibitzte eine weitere Pflaume aus dem offenen Säckchen, aber Peter war so mit dem Treiben auf dem gegenüberliegenden Ufer beschäftigt, dass er seinen kleinen Bruder gewähren ließ.

      Langsam steuerte der Ferge sein Boot zurück in Richtung des Ufers, an dem die Menschenmassen über den Treidelweg marschierten. Lene genoss derweil ganz unbeteiligt das frische Gras.

      Mainz – in der Synagoge

      Respektvoll näherte sich David, Jehudiths und Chaims Ältester. In seiner Hand hielt er eine Schiefertafel.

      »Sei gegrüßt, David«, sagte Raimund, »wie geht es dir?«

      »Entschuldigt bitte vielmals, dass ich störe«, antwortete David, »aber der Parnas hat mich gebeten, diese Nachricht eiligst meinem Vater zu übergeben.«

      »Was will Kalonymos von mir?« Chaim stöhnte laut. »Kann das nicht warten? Du siehst doch, dass wir mitten in der Arbeit sind.«

      »Er hat gesagt, es sei sehr dringend«, insistierte David und hielt ihm die Schiefertafel vors Gesicht.

      Entschuldigend blickte Chaim zu Raimund, nahm die Tafel und las. Bereits nach wenigen Zeilen wurde er ganz ernst und wandte sich an seinen Sohn. »Was hat Kalonymos noch gesagt?«

      »Er lässt ausrichten, dass sich der Rat augenblicklich bei ihm treffen soll. Er bittet darum, dass du dich beeilst.«

      »Ich komme«, sagte Chaim. »Raimund, es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.«

      »Was ist passiert?« Raimund sah ihn besorgt an. Sein Freund konnte sich sicher denken, dass Streitfragen über Talmudauslegung oder innerjüdische Angelegenheiten nicht solcher Eile bedurft hätten.

      »Es gibt beunruhigende Nachrichten aus Speyer.« Chaim wollte Raimund nicht vor den Kopf stoßen, aber er hatte eigentlich schon zu viel gesagt. Die Dinge, die im Rat besprochen wurden, mussten absolut vertraulich behandelt werden. Selbst Jehudith dürfte er eigentlich nichts davon erzählen. Aber in ihrem Fall überging er das strenge Gebot. Auf Jehudiths Verschwiegenheit konnte er sich verlassen. Um aus ihr etwas herauszubekommen, müsste man sie foltern.

      Raimund schien sich über Chaims Situation im Klaren, daher unterbrach er die peinliche Stille und verbeugte sich. »Bitte lass mich wissen, wenn ich helfen kann.«

      »Wir werden deine Hilfe vielleicht bald bitter nötig haben«, antwortete Chaim, erleichtert, dass sein Freund, der Domdekan, ihm vertraute, obwohl er sich so verhalten geäußert hatte.

      Chaim zeigte auf ein zusammengefaltetes Leintuch neben dem Tehillim auf dem Pult und sagte: »David, möchtest du das Buch der Psalmen in das Regal zurücklegen? Du weißt ja, wohin.«

      David nickte. Chaim sah noch, wie sein Sohn das Leinen nahm, es auf dem Pult auseinanderfaltete und das kostbare Buch auf den ausgebreiteten Stoff legte,

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