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und regionale Vergleiche zu ziehen. Diese Aufgaben sind in der Fachliteratur schon umfassend wahrgenommen worden und werden auch zukünftigen Studien überlassen bleiben. Vielmehr bescheiden wir uns im Großen und Ganzen mit dem Ziel, die Leser*innen dieses Buches an Erfahrungen und summarischen Interpretationen von Sozialwissenschaftler*innen teilhaben zu lassen, die vor dem Hintergrund der Geschichte ihres Landes die Krisen des Zerfalls des sowjetischen Sozialismus einerseits, die Bewältigung der anstehenden Aufgaben dieser Phase andererseits untersuchen und ihre Auswirkungen auf die Entstehung neuer Wertorientierungen und im Blick auf die Entwicklung sozialer und kultureller Identität darstellen. Dabei setzen die Autor*innen unterschiedliche thematische Schwerpunkte, indem sie bestimmte Wertentwicklungen und identitätsbildende Orientierungen in den Vordergrund rücken und zum Gegenstand ihrer Analyse machen. In diesen ausgewählten Sichtweisen steht nicht zu erwarten, dass der je zugrunde liegende Begriff der Identität in allen Beiträgen als einheitlich zu erkennen ist. Schon deshalb verbietet sich hinsichtlich vieler Dimensionen der Vergleich zwischen den Beiträgen. Nichtsdestoweniger aber hoffen wir, dass die zahlreichen Phänomene, die zur Darstellung kommen, und die unterschiedlichen Facetten der Wahrnehmungen, die sich aus der Differenz der Perspektiven ableiten, den Leser*innen einen verwertbaren Fundus an Kenntnissen und nicht minder an neuen Fragen vermitteln, die sich hinsichtlich des Konstruktes der „postsowjetischen Identität” stellen lassen.

      Die veröffentlichungsreife Fertigstellung der Texte und insbesondere die Übersetzungen aller Texte haben viel Zeit in Anspruch genommen; daher konnte eine zunächst für das Jahr 2019 geplante Herausgabe des Buches nicht eingehalten werden und wir mussten einige Autor*Innen um Verständnis bitten dafür, dass wir die Bearbeitungszeit der Buchvorlage doch erheblich verlängern mussten. Dadurch haben sich allerdings auch neue Chancen ergeben, weitere Beiträge in das Buch aufzunehmen. Wir danken allen Autor*innen heute für ihre Geduld.

      Der Herausgeber dankt insbesondere den Übersetzerinnen Anna Zasuhin, Elena Elisowa, Larissa Bogacheva und Lubov Korn für ihr unermüdliches kooperatives Engagement, ihr nicht nachlassendes Durchhaltevermögen und ihre eifrigen Bemühungen um sinngemäß treffende Übersetzungen für beide Sprachen. Ohne ihr zuverlässiges Engagement und ihre zielführende kommunikative Kompetenz im Dialog mit den Autor*innen wäre dieses Buch nicht zustande gekommen.

      Wir danken für unterstützende Leistungen bei der Übersetzung der Artikel ins Russische bzw. ins Deutsche Daria Filipenko, Nino Kapanadze, Laima Lukočiūtė, Natalie Rybnikov und Lusine Zakaryan, die einige Vorträge wie auch Diskussionen im Rahmen der Konferenz übersetzt haben und auch in vielerlei anderer Hinsicht bei der Durchführung der Konferenz hilfreiche Beiträge geleistet haben.

      Ausblick auf die Beiträge des Buches

      Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste und einführende Teil widmet sich der Einführung in einige allgemeine Grundlagen des Identitätsbegriffes und der Frage, welche Bedeutung der Rede von einer „postsowjetischen Identität“ überhaupt zukommen kann. Die Beiträge zweier Autoren aus Armenien und Kirgisistan skizzieren vorwiegend aus einer soziologischen und kulturpsychologischen Sichtweise die Bedingungen einer postsowjetischen Identität in ihren Ländern und vermitteln einen Einblick in die fundamentalen Schwierigkeiten der postsowjetischen Selbstfindung in den Zeiten der Transformation.

      Der zweite Teil des Buches beleuchtet die Bedeutung von Wertorientierungen für die Ausbildung einer postsowjetischen Identität aus der Sicht von Autor*innen verschiedener postkommunistischer Länder. Sie untersuchen den historischen und aktuellen Fundus der kulturspezifischen Identitätssymbolik, die gesellschaften Identifikationstendenzen, den gegenwärtigen Stand und die treibenden Kräfte des Wertewandels, aber beschreiben auch die Spannungen zwischen verschiedenen Typen kollektiver Identität und die bestehenden generationalen Konflikte.

      Spezielle Teilidentäten des postsowjetischen Menschen heute stellt der dritte Teil des Buches vor. Hier geht es zum einen um einige Auffälligkeiten in der sogenannten „Medien-Identität“ junger Menschen, in welchen die soziale Identität und die dominanten Wertorientierungen zum Ausdruck kommen, zum anderen um die Bedeutung der beruflichen Identität in Russland aus der Sicht von Studierenden und die Prioritäten bei der Berufswahl und schließlich um die Notwendigkeit einer balancierten Patchwork-Identität unter den aktuellen Bedingungen des Arbeitslebens.

      Im Folgenden sollen nun die einzelnen Beiträge zusammenfassend vorgestellt werden.

      Mit der Kernfrage des Buchtitels, in welchem Sinne der Begriff der „postsowjetischen Identität“ gedeutet werden kann und mit welchen Inhalten er zu füllen ist, befasst sich der einführende Artikel von Wolfgang Krieger. Diese Frage enthält eine Reihe von verführerischen Anreizen sowohl hinsichtlich des Identitätsbegriffes, der nun lange schon in der Kritik steht, als auch hinsichtlich der Formel des „Postsowjetischen“, dessen phänomenale Einheit zweifelhaft ist und von dem möglicherweise allenfalls im Plural gesprochen werden dürfte. Zu dieser Problematisierung gehört auch die skeptische Vermutung, dass in der Rede von postsowjetischer Identität Vorannahmen suggeriert werden, die angesichts der heutigen gesellschaftlichen Realtitäten nach drei Jahrzehnten Transformations-geschichte, aber auch angesichts der so unterschiedlichen kulturellen und sozialen Vorgeschichte der verschiedenen ehemals sowjetischen bzw. kommunistischen Länder des Ostens nicht (mehr) haltbar sind.

      Die implizite Logik beider Begriffe zu problematisieren, ist daher das erste Anliegen des Artikels von Krieger. Worin, inwieweit und weshalb Menschen mit sich identisch bleiben – die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig und führen zu divergenten Begriffen und wissenschaftlichen Theorien zur Identität. Daher werden im Folgenden von Krieger Identitätsbegriffe aus verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen aufgegriffen und der Wandel der Identitätstheorien hin zu einem dynamischen Identitätsbegriff nachgezeichnet. Ihr Ertrag für ein mögliches Konzept der „postsowjetischen Identität“ ist sehr wohl reichhaltig, doch bleibt eine erkenntnistheoretische wie semantische Relativierung der Rede von „postsowjetischer Identität“ maßgeblich: „Identität“ wie auch „das Postsowjetische“ sind reduktive Konstruktionen im Sinne des Weberschen Idealtypus; sie bezeichnen keine natürlichen Entitäten oder empirisch verfügbaren Verhältnisse, sondern ein Instrument der Analyse, dass das Besondere ausgewählter sozialer Phänomene in Erscheinung treten lässt und eine sinnhafte Ordnung in der Komplexität der sozialen Ereignisse und Strukturen postuliert.

      Artur Mkrtchyan widmet seinen Artikel der Frage nach den postsowjetischen Bedingungen möglicher Freiheit und spannt die Analyse dieser Bedingungen ein zwischen den Polen der Haftung am Vergangenen und dem Streben nach dem Zukünftigen, aber auch zwischen den Polen einer negativen Freiheit der Überwindung von Abhängigkeit und einer positiven Freiheit, sich an neue Ideale und Werte zu binden. Auch wenn diese Pole nicht nur für die Einschätzung der Freiheit in postsowjetischen Ländern maßgeblich sein mögen, so haben sie hier doch eine besondere Bedeutung, zum einen, weil in postsowjetischen Ländern mit eben jenem Vergangenen größtenteils gebrochen worden ist, zum anderen, weil vom Zukünftigen kaum eine Vision besteht und ein verbreiteter Pessimismus und Fatalismus ein anomisches Chaos schafft und jegliche Initiative erstickt. Mkrtchyan betrachtet nun die postsowjetische Situation im Besonderen für das kleine Land Armenien, dessen Befindlichkeit zwischen Krieg und Frieden die Entwicklung von Perspektiven schwächt und viele Menschen zur Emigration bewegt. Die gewünschte Europäisierung des Landes (im Aufbau einer Zivilgesellschaft und demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen) behindern aber auch innere Faktoren, die noch als das Erbe der Sowjetzeit und als die Wunden der Neunzigerjahre identifiziert werden können, von welchen sich einige ehemals sowjetischen Länder außerhalb Russlands bis heute nicht erholt haben.

      Es ist offenbar, dass viele postsowjetischen Gesellschaften für die Anforderungen eines gesellschaftlichen Neuaufbaus schlecht gerüstet scheinen, es fehlt als sozialen Strukturen, die über die Familien- und Clangemeinschaften hinaus hoffnungsvolle Ressourcen der Solidarität schaffen und Keimzellen der bürgerlichen Gesellschaft bilden könnten. Zwischen dem Ganzen der Nation und dem Partikularen der familialen Einheiten liegt ein Vakuum sozialen Engagements, welches auch in den Sinn- und Wertbindungen der Identität der Bürger*innen als ein fehlendes Orientierungspotenzial zu Tage tritt. Es fehlt an einem Bewusstsein sozialer Verantwortung und sozialer Rücksichtnahme, an sozialen Regeln und Prinzipien, an sozialer Engagiertheit

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