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hinaus und wollte sich aus dem Staub machen. Mr. Meriwether gefiel das gar nicht. Er stoppte Ryan mit einem ergreifenden Klagelied, das selbst Steine erweichen würde, sollte es länger dauern.

      »Ich weiß – ach Mist. Tut mir leid«, murmelte Ryan zerstreut. Er kraulte den Kater kurz unter dem Kinn, wo er es am liebsten mochte. Nach wenigen Sätzen stand er wieder in der Küche, goss Milch in Mr. Meriwethers Teller und sauste zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Als er den Teller unter das Vordach stellte, war die Hälfte der Milch verschwunden. Der Kater rümpfte zwar die Nase ob der mageren Mahlzeit, aber er ließ ihn ohne weiteren Protest ziehen.

      Seit er am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, und vielleicht schon vorher, kreisten Ryans Gedanken um das Treffen mit der Journalistin. Es war sein erstes echtes Interview. Noch nie hatte sich jemand außerhalb des akademischen Zirkels von Strebern für seine Arbeit interessiert. Wie sollte er einem Laien in verständlichen Worten erklären, wie sein Modell funktionierte? Was bildete sich die Frau ein? Am meisten fürchtete er das Mikrophon. Wenn sie ein Aufnahmegerät vor ihn hinstellte, setzte sein Verstand aus, das wusste er aus Erfahrung. Schon die Rollenspiele in der Schule in Weymouth hatten stets in einer Katastrophe geendet. Er hätte niemals zusagen sollen. Dieses Interview machte einfach keinen Sinn. Warum konnten die Leute nicht einfach seine Arbeit lesen? Da stand alles klipp und klar drin. Mehr gab es nicht zu sagen. Diese Begegnung lag ihm wie ein Teller fetttriefende Fish and Chips im Magen.

      Alle Selbstzerfleischung half nichts. Pünktlich um zehn rief ihn die Zentrale an: »Dein Interview ist da.«

      »Ich komme«, antwortete er tonlos.

      Als erstes fiel ihm auf, dass sie scheinbar ebenso nervös, fast unsicher wirkte wie er. Dann sah er ihre bis über die Schulter fallende kastanienbraune Haarpracht, die neugierigen schwarzen Augen, den weichen Mund und das kleine Näschen. Vor ihm stand nicht der abgebrühte Pressedrache, der seine Opfer gnadenlos zerzauste, wie er erwartet hatte. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Bis sie seine Hand wieder losließ, fühlte er sich schon beinahe entspannt.

      »Ryan«, korrigierte er sie. »Einfach Ryan Cole. Bis zum Doktor dauert’s noch ein paar Monate.«

      »Ach so, dann ist der Artikel Teil Ihrer Doktorarbeit?«

      »Genau genommen ist er die Dissertation«, lachte er. »Der Rest der Arbeit besteht nur noch aus akademischer Staffage und Querverweisen.« Er redete mit ihr wie mit einem normalen Menschen, stellte er erstaunt fest. Sie standen noch immer in der Eingangshalle. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen an. Das wirkte. »Ach – entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. »Gehen wir in mein Büro.«

      Sie folgte ihm einige Schritte, blieb plötzlich stehen und fragte beinahe scheu: »Ryan? Entschuldigung, gibt’s hier vielleicht einen Kaffee oder so etwas?«

      »Sicher.« Er überlegte. Die saure Brühe seiner Kochnische durfte er ihr nicht anbieten. »Es gibt eine kleine Selbstbedienungs-Cafeteria im Institut. Ist das O. K.?«

      »Wunderbar.«

      Besser war der Kaffee nicht, nur weniger sauer, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Nach einem winzigen Schluck setzte sie den Becher ab und sagte lächelnd:

      »So spricht sich’s doch viel gemütlicher. Kleiner Reportertrick.«

      »Bei mir hat er funktioniert«, grinste er. »Warnen Sie mich, wenn das Interview beginnt?«

      »Es hat schon begonnen.«

      Er stutzte. »Oh – ganz ohne Recorder? Oder sind Sie verkabelt?«

      »Keine Angst«, lachte sie. »Ich merke mir einfach gut, was Sie sagen und werde hin und wieder Notizen machen, ganz klassisch. Ist das in Ordnung?«

      »Hört sich brillant an.« Die Erleichterung war ihm sicher anzusehen.

      Sie musterte ihn fast ein wenig spöttisch, wie ihm schien, bevor sie unvermittelt zur Sache kam und fragte:

      »Sie sind also der Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können?«

      Es klang wie eine Feststellung. In einem gewissen Sinne stimmte die Behauptung ja auch. Trotzdem wusste er im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre schwarzen Augen warteten, Er musste etwas Sinnvolles sagen. »Nun …«, begann er gedehnt, »das scheint mir eine allzu einfache Zusammenfassung zu sein. Abgesehen davon behaupte ich gar nichts, ich leite her und stelle fest. Mathematik, mehr ist das nicht.«

      »Aber in der Zusammenfassung schreiben Sie, dass Ihr Modell die Goldblase vom Januar 2010 korrekt vorausberechnet hätte. Für den naiven Leser hört sich das an wie eine Prophezeiung. Im Nachhinein zwar, aber immerhin.«

      Schon hatte die süße Maus ihn festgenagelt. Sie wollte ein klares Ja oder Nein auf eine einfache Frage, auf die es keine kurze Antwort gab. »Wo soll ich nur beginnen«, murmelte er ratlos.

      »Ganz vorn. Stellen Sie sich vor, ich sei Ihre kleine Schwester, der sie in wenigen Sätzen erklären wollen, was Sie tun.«

      Er schüttelte lachend den Kopf. »Geht nicht«, meinte er. »So viel Fantasie habe ich nicht.« Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Vielleicht sollte ich Ihnen einfach schildern, wie unser Modell Finanzblasen erkennt.«

      Sie nickte stumm. Langsam und konzentriert, auf jedes Wort bedacht, erklärte er den Algorithmus Schritt für Schritt, mit dem seine Software das Börsengeschehen analysierte. Manchmal stockte er, musste einen Satz in anderen Worten, ohne Fachbegriffe, neu formulieren. Die Aufgabe war schwierig, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, selbstverständliche Begriffe wie ›nichtlineare Abhängigkeit‹, ›Randverteilung‹ und ›schiefe Pareto-Distribution‹ zu meiden. Das Mäuschen hörte zu und machte brav Notizen, sodass er am Ende überzeugt war, die allgemein verständliche Sprache gefunden zu haben, die sie erwartete.

      »Ausgezeichnet«, sagte sie schließlich lächelnd. »Sehen Sie, Sie haben doch genügend Fantasie.«

      »Und das, obwohl ich leider keine kleine Schwester habe.«

      »Ich weiß.«

      »Sie wissen?«

      »Aber sicher. Ich muss wissen, wen ich vor mir habe, wenn ich jemanden interviewe. Berufskrankheit. «

      »Na gut, ist ja nicht gerade ein Geheimnis, dass ich als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen bin.«

      »Verwöhnt ist mir neu«, schmunzelte sie. »Darf ich das notieren?« Scherzhaft zückte sie den Stift.

      Sie saßen immer noch in der Cafeteria. Ab und zu tauchte ein Student oder eine Assistentin auf, streifte seinen auffallenden Besuch mit einem neugierigen Blick und widmete sich dann der spärlichen Auslage. Er nahm an, alles gesagt zu haben und schlug vor, ihr das Modell in Aktion zu zeigen. Schon wollte er sich erheben, als sie ihn mit einer weiteren Frage überraschte:

      »Was mich noch interessiert: Welche Daten verwenden Sie?«

      »Preisfeeds von Reuters und Börsen, Webpages, Twitter, das halbe Internet.«

      »Was ich meine: kann Ihr Modell erkennen, wo eine Blase entsteht, wer sie sozusagen verursacht?«

      »Nein«, antwortete er verblüfft. »Die Frage hat sich bis jetzt nicht gestellt. Allerdings …«

      »Ja?«

      Täuschte er sich, oder hing sie jetzt an seinen Lippen, als wäre dies die wichtigste aller Fragen? »Ein sehr interessanter Hinweis, den Sie mir da geben«, antwortete er zögernd. »Ich glaube, es sollte möglich sein, Aussagen in dieser Richtung zu machen, wenn man die geeigneten Daten hat.«

      »Was heißt geeignet? Bankdaten zum Beispiel – SWIFT?«

      Er starrte sie mit offenem Mund an. Es war, als stießen sie übergangslos von harmloser Unterhaltung in die Tiefen des Modells vor, die zu verstehen nur Spezialisten vorbehalten war. »Sie – ja – das wäre möglich«, stammelte er. »Was – warum interessiert Sie das?«

      Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ich glaube, wir sollten das doch besser in Ihrem Büro besprechen«,

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