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Selbstgespräche. Charles Fernyhough
Читать онлайн.Название Selbstgespräche
Год выпуска 0
isbn 9783831269525
Автор произведения Charles Fernyhough
Издательство Bookwire
Charles Fernyhough
Selbstgespräche
Charles Fernyhough
Selbstgespräche
Von der Wissenschaft und Geschichte unserer inneren Stimme
Aus dem Englischen übersetzt von Theresia Übelhör
Die englische Erstausgabe ist 2016 bei PROFILE BOOKS in Zusammenarbeit mit wellcome collection erschienen.
Titel der Originalausgabe: The voices within. The history and science of how we talk to ourselves
© Charles Fernyhough, 2016, 2017
Copyright der deutschen Erstausgabe
© Verlag Komplett-Media GmbH
2018, München/Grünwald
1. Auflage
ISBN E-Book: 978-3-8312-6952-5
Umschlaggestaltung: X-Design München
Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg
Satz und Layout: Daniel Förster, Belgern
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
»Wir denken nicht in Worten, sondern in Schatten von Worten.«1
VLADIMIR NABOKOV
INHALT
KAPITEL 1
LUSTIGE KÄSESCHEIBEN
KAPITEL 2
DAS GAS AUFDREHEN
KAPITEL 3
DIE QUASSELSTRIPPE
KAPITEL 4
ZWEI AUTOS
KAPITEL 5
EINE NATURGESCHICHTE DES DENKENS
KAPITEL 6
STIMMEN AUF PAPIER
KAPITEL 7
DER CHOR IN MIR
KAPITEL 8
NICHT ICH
KAPITEL 9
VERSCHIEDENE STIMMEN
KAPITEL 10
DIE STIMME EINER TAUBE
KAPITEL 11
EIN GEHIRN, DAS SICH SELBST ZUHÖRT
KAPITEL 12
EINE GESPRÄCHIGE MUSE
KAPITEL 13
BOTSCHAFTEN AUS DER VERGANGENHEIT
KAPITEL 14
EINE STIMME, DIE NICHT SPRICHT
KAPITEL 15
SELBSTGESPRÄCHE
DANKSAGUNG
ANMERKUNGEN UND LITERATUR
STICHWORT- UND NAMENSVERZEICHNIS
KAPITEL 1
LUSTIGE KÄSESCHEIBEN
Es ist ein Herbsttag in Westlondon. Ich bin auf dem Weg zu einem Arbeitsessen und sitze in der U-Bahn Central Line. Der mittägliche Hochbetrieb hat noch nicht eingesetzt, und ich habe es geschafft, einen Platz in einem jener Waggons zu ergattern, in denen man sich in zwei Reihen gegenübersitzt, nahe genug, um die Titelseiten der Zeitungen zu überfliegen, die das Gegenüber liest. Die U-Bahn hat zwischen zwei Stationen angehalten, und wir warten auf eine Durchsage. Die Leute lesen Taschenbücher, die Klatschblätter, jene seltsamen technischen Bedienungsanleitungen, die allem Anschein nach nur in der U-Bahn studiert werden. Alle Übrigen starren auf die rätselhaft farbig gekennzeichneten Kabel, die im Tunnel direkt vor dem Abteilfenster entlangführen. Holland Park ist vermutlich noch 400 Meter entfernt. Ich tue nichts Ungewöhnliches, genau genommen tue ich überhaupt nichts. Es ist ein Moment der nur schwach bewussten Beschaulichkeit. Ich bin ein ganz normaler Mann Ende vierzig in gesunder mentaler und körperlicher Verfassung. Ich habe ein klein wenig zu lange geschlafen, ein bisschen zu wenig gegessen und freue mich mit einem guten, noch nicht befriedigten Appetit auf das Mittagessen in Notting Hill.
Auf einmal lache ich los. Noch einen Augenblick zuvor war ich ein anonymer Fahrgast mit elektronischer Oyster-Fahrkarte. Jetzt gebe ich meine Tarnung mit einem mehr als hörbaren Gekicher auf. Ich komme häufig nach London, aber ich bin es nicht gewohnt, dass mich so viele Fremde gleichzeitig anstarren. Ich besitze genügend Geistesgegenwart und bin mir meines Publikums ausreichend bewusst, um mein Gelächter in Schach zu halten, bevor ein privater Witz in allgemeine Verlegenheit ausartet. Interessant ist dabei nicht, worüber ich lache, sondern die Tatsache, dass ich überhaupt lache. Ich habe weder dem Witz eines anderen gelauscht noch einen lustigen Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Ich habe etwas viel Banaleres getan. Man könnte sagen, dass ich gerade die allernormalste Erfahrung gemacht habe, die ein Mensch in einer U-Bahn erleben kann: Mir ist ein Gedanke durch den Kopf gegangen.
Es handelte sich um einen ziemlich bedeutungslosen Gedanken, der mich an jenem Tag loslachen ließ. Es war keiner jener Momente, in denen ein Denker endlich auf die Lösung eines wichtigen Problems stößt, eine Idee hervorbringt, die die Industrie revolutionieren wird, oder die Anfangsverse eines großartigen Gedichts vollendet. Gedanken können Geschichte schreiben, doch das ist gewöhnlich nicht der Fall. Damals dachte ich zwischen den zwei U-Bahn-Stationen an eine Kurzgeschichte, an der ich gerade arbeitete. Es ging um die Geschichte einer ländlichen Gemeinde und um Zwietracht im post-agrarwirtschaftlichen Zeitalter, und ich wollte, dass mein Held, ein ehemaliger Bauer, eine außereheliche Beziehung führt. Ich hatte die Möglichkeiten erwogen, dass er eine Affäre mit der Frau eingeht, die den mobilen Postlaster fährt, und diese Affäre spielt sich hinter den geschlossenen Jalousien eines speziell umgebauten Ford Transit ab. Die beiden treffen sich jeden Donnerstagnachmittag nach den wöchentlichen Geschäftszeiten im Dorf. Die Türen werden verschlossen, das Sprechfunkgerät ausgeschaltet, und die beiden erkunden einander auf der von Hunderten von Kleingeldtransaktionen verkratzten Schaltertheke. Während ich die Szene in Gedanken konstruierte, hatte ich das Bild eines am Rand der Landstraße geparkten leuchtend roten Postlasters vor Augen, der auf mögliche Passanten wie stillgelegt und leer wirkt, dann aber mit einem hartnäckigen Quietschen der Federung zu schaukeln beginnt, als die Körper im Inneren anfangen, Reibung zu suchen …
Genau an diesem Punkt musste ich laut loslachen. Diese Wörter gingen mir durch den Kopf und amüsierten mich. Auf keinen der anderen Fahrgäste zeigten sie diese Wirkung, weil keiner die Pointe hörte. Aber meine Mitfahrenden wussten, dass es eine Pointe gab. Sie lachten nicht über meinen privaten Spaß (weil sie ihn nicht hören konnten), aber sie lachten mich auch nicht aus. Sie wussten, dass ich, wie die meisten Menschen in diesem U-Bahn-Wagen, mit Gedanken beschäftigt war, und sie verstanden, dass Gedanken – wilde Gedanken, banale Gedanken, heilige oder profane Überlegungen – gelegentlich Gelächter hervorrufen können. Selbstgespräche zu führen ist etwas ganz Normales, und die Menschen erkennen es, wenn sie es sehen. Nicht nur das, sie erkennen auch deren Privatheit an. Ihre Gedanken gehören nur Ihnen, und was immer sich dort auch abspielt, es findet in einem Bereich statt, zu dem andere Menschen keinen Zugang haben.
Ich bin