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der Gesellschaft vom Staat. 1933 wurde er von der SA verhaftet und von SS-Männern ermordet. Er schreibt: Im Staat erkenne ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen – Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt – war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens.»

      Stammer und seine Assistenten lobten Pandelwitz’ und Arys’ Ausführungen, und es konnte nun diskutiert werden. Das war die Chance derjenigen Studenten, die der Devise «Ich rede, also bin ich» anhingen.

      Einer warf Arys und Pandelwitz vor, sie hätten den anarchistischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter Raphael Friedberg vergessen, den Verfechter des Generalstreiks, aber auch den Anarchisten Augustin Souchy aus Berlin-Wilmersdorf, der die Bilanz seines Lebens mit den Worten Viel erstrebt, wenig erreicht zusammengefasst hatte.

      «Na, Gott sei Dank!», riefen mehrere Kommilitonen, die der Meinung waren, ohne einen starken Staat ging es nicht, was wiederum die auf den Plan rief, die der FDP nahestanden und so wenig Staat wie möglich wollten.

      Die Diskussion wurde abschließend als fruchtbar bezeichnet, und man war allseits zufrieden. Nach Ende der Lehrveranstaltung eilten sie alle zur feierlichen Einweihung des neuen Gebäudes für das Otto-Suhr-Institut in der Ihnestraße 21. Dabei fiel Arys und Pandelwitz ein Kommilitone auf, der dem RCDS, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten, angehörte und gern Vorsitzender des Allgemeinen Studenten-Ausschusses geworden wäre, aber als Mitglied der schlagenden Burschenschaft Saravia viele Gegner und Feinde hatte: Eberhard Diepgen. Dass der einmal Regierender Bürgermeister werden würde, ahnte noch niemand.

      Für Arys und Pandelwitz wurde es schließlich Zeit, sich auf den Weg zu machen, wollten sie rechtzeitig bei Heinrich Koch in der Mommsenstraße sein. Mit der U-Bahn ging es zum Fehrbelliner Platz. Von dort aus fuhren sie mit dem 1er Bus Richtung Moabit bis zur Mommsenstraße. Dort, unweit der Leibnizstraße, hatte Heinrich Koch im Vorderhaus, vierte Etage, eine geräumige Wohnung gemietet. Im sogenannten Berliner Zimmer hatte sich die Mehrzahl seiner Leute schon versammelt.

      Koch war eine imposante Persönlichkeit. Eine bestimmte Wirkung erzielte er schon durch seine Größe von nahezu zwei Metern und seinen massigen Körper, der weit über zwei Zentner wog. Dazu kam, dass sein linkes Bein amputiert worden war und ihn seine Prothese eindrucksvoll humpeln ließ. Dies war nicht etwa Folge einer Kriegsverletzung, sondern seiner Zuckerkrankheit. Mit sonorer Stimme begrüßte er alle und kam gleich zum Tagesordnungspunkt Nummer eins.

      «Fluchttunnel Wollankstraße. Es war zwar keiner von uns direkt daran beteiligt, aber wir können von dem, was da geschehen ist, auf alle Fälle einiges lernen. Kelly, du weißt am besten Bescheid.»

      Kelly war eine Studentin aus Columbus, Ohio, und Arys wie Pandelwitz wären nur allzu gern mit ihr ins Bett gegangen, zögerten aber mit ihren Annäherungsversuchen, um ihre Männerfreundschaft nicht zu belasten. Jeder von ihnen beließ es deshalb bei heimlichen erotischen Fantasien.

      Kelly sprach perfekt Deutsch, allerdings mit einem putzigen Akzent. «Ich schildere euch erst einmal die Örtlichkeit. Also, der S-Bahnhof Wollankstraße sitzt auf Gewölbebögen. Er liegt auf Ost-Berliner Gebiet, kann aber nur von West-Berlinern benutzt werden. Vieles ist eben absurd heutzutage. Nun sind unsere Kommilitonen auf die Idee gekommen, in die ungenutzten Gewölbe einzudringen und von dort aus einen Tunnel nach Ost-Berlin zu graben, zu einem Keller in der Schulzestraße. Schön und gut, drei Wochen lang haben sie im Januar gegraben – und aus der Traum! Warum? Weil der Tunnel unter dem Bahnsteig eingebrochen ist. Auf dem Bahnsteig war ein Krater entstanden, Sand ist nachgerutscht.»

      «Weil sie die Vibrationen nicht einkalkuliert hatten, die durch die fahrenden Züge entstehen», fügte Koch hinzu. «Das hätte nicht passieren dürfen. Reichsbahner haben alles entdeckt, dann hat die Transportpolizei die Ermittlungen übernommen, und die Presse in der Zone konnte wieder einmal behaupten, der Westen habe versucht, Agenten einzuschleusen. Es gab eine große Pressekonferenz des Ministers für Verkehrswesen.»

      In der folgenden Stunde ging es darum, die Aufgaben für die nächsten Wochen zu verteilen.

      «Wer sorgt für gute Doppelgänger?», fragte Koch. Sie hatten vor, in West-Berlin Menschen zu finden, die DDR-Bürgern, die in den Westen wollten, ähnlich sahen, und sie um ihre Pässe zu bitten.

      Das war nichts für Arys und Pandelwitz. Auch wollten sie nicht mit Bundespässen nach Ost-Berlin gehen, um dort «Deckelmänner» anzuwerben. Das waren Männer, die, nachdem jemand durch die Kanalisation geflüchtet war, die schweren Gullideckel wieder einsetzen sollten, um die Fluchtwege zu kaschieren.

      Auch jemanden, der bereit war, gefälschte Pässe nach Leipzig zu bringen, suchte Koch noch, ebenso Leute für die sogenannten Skandinavien-Touren, mit denen man Menschen, die aus der DDR rauswollten, mit gefälschten Pässen die Flucht nach Dänemark ermöglichte.

      Arys und Pandelwitz meldeten sich erst, als es darum ging, Löcher in die Mauer zu sprengen. Das versprach, ein echtes Abenteuer zu werden.

      «Gut. Sucht euch einen Ort, wo ihr niemanden auf unserer Seite gefährdet. Wenn ihr eine geeignete Stelle gefunden habt, bekommt ihr den Sprengstoff und könnt loslegen.»

      So machten sie sich in den folgenden Tagen auf und suchten nach einer geeigneten Stelle. Dabei erlebten sie so einiges. Sie befanden sich an der Bernauer Straße, als ihr Erkundungsspaziergang an der Mauer entlang eine dramatische Wendung zu nehmen schien.

      «Du, Rainer, guck mal! Die beiden Grenzsoldaten da, die wollen fliehen!»

      Richtig, gerade warfen zwei Grenzer ihre Maschinenpistolen weg und winkten in den Westen hinüber. Feuerwehrleute und Polizisten rannten zur Mauer, um ihnen herüberzuhelfen, bevor ihre Kameraden auf sie schießen würden. Da erscholl höhnisches Gelächter von drüben. Man hatte die West-Berliner zum Narren gehalten.

      An der Ecke Ruppiner/​Bernauer Straße gab es dann einen weiteren denkwürdigen Zwischenfall. Eine Besuchergruppe, die sich eindeutig auf West-Berliner Gebiet befand, hatte östliche Grenzsoldaten mit ihren spöttischen Bemerkungen offenbar so gereizt, dass diese zwei Tränengaskörper über die Mauer warfen. Einen davon schleuderte ein West-Berliner Polizist zurück, worauf einer der Grenzer aus seiner MP2 gezielte Feuerstöße auf den Beamten abgab. In wilder Panik flohen die Besucher ins westliche Hinterland, mit ihnen auch Arys und Pandelwitz.

      «Deutsche, schießt nicht auf Deutsche!», schrie jemand, «Ihr Schweine, ihr!» ein anderer. Tote gab es zum Glück keine.

      Immer wieder gab es Versuche von DDR-Bürgern, die Mauer mit schwerbeladenen Lastkraftwagen zu durchbrechen. Beispielsweise am 9. April an der Boyenstraße zwischen den Bezirken Wedding und Mitte, als ein mit Zement beladener Lkw in der Mauer stecken blieb. Die beiden männlichen Insassen konnten nach West-Berlin entkommen, obwohl die Grenzpolizei noch auf sie schoss.

      Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße erlebten Arys und Pandelwitz aus der Nähe, wie ein mit Kies beladener Lkw die Schlagbäume durchbrach. Man schoss auf die Fliehenden. Der Fahrer wurde tödlich getroffen, und das Fahrzeug krachte auf West-Berliner Gebiet gegen eine Hauswand. Die beiden anderen Insassen überlebten mit leichten Verletzungen.

      Zwischen ihren Erkundungstouren hatten Arys und Pandelwitz noch Zeit, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund gelegentliche Besuche abzustatten. Der SHB war vor zwei Jahren als Konkurrenz zum Sozialistischen Hochschulbund, dem SDS, gegründet worden, der sich immer stärker marxistischen Positionen angenähert hatte und der DDR eine nicht unerhebliche Sympathie entgegenbrachte. Schon deshalb tendierten die beiden Studenten zum SHB. Die Mitgliedschaft bei ihm versprach aber auch gewisse Karrierechancen – in West-Berlin begann sich immer stärker ein Netzwerk herauszubilden, das später unter dem Begriff «Berliner Filz» bundesweit bekannt werden sollte. Der SHB hatte sein Domizil in der Sven-Hedin-Straße, ein paar Hundert Meter vom U-Bahnhof Krumme Lanke entfernt. Das war zwar von Hermsdorf aus eine weite Fahrt, aber sie hofften beide, ihre sporadischen Besuche würden sich irgendwann auszahlen.

      An diesem Abend hatte sich zu einem Referat mit anschließender

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