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die Erfahrung der besonderen, tiefen Kraft, die im Ritual hervortritt: die Erfahrung des Heils.

      Heil ist das Ziel aller Religionen, sie unterscheiden sich aber darin, worin sie es sehen. Für den Christen liegt es in der Erlösung von Sündenschuld, in der göttlichen Gnade und in der Erwartung des besseren Jenseits. Wenn er Heil erhofft, ist es persönliches Seelenheil, individuell, abstrakt und „nicht von dieser Welt“. Ebenso sieht der Buddhist sein Heil in der Erlösung des Individuums aus dem Kreislauf des Leidens und richtet sein Streben darauf, sich von den Bindungen an die Welt zu lösen.

      Solche Vorstellungen sind dem Heidentum fremd. Es betrachtet weder die Welt als schlecht und die Menschen in ihr als erlösungsbedürftig noch trennt es Geist und Seele vom Körper und den irdischen Interessen ab. Es vertritt eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit, in der Geist und Materie, Natur und Götter, Diesseits und Jenseits eine einzige, ungeteilte Realität bilden, in der auch das religiöse Heil – die Kraft und der Segen der Götter – vom irdischen Glück und Wohl nicht zu trennen ist.

      Das zeigt schon die Begriffsbildung selbst: Heil, gotisch hails, nordisch heill oder sæll, bedeutet wie das verwandte lateinische salus ursprünglich einfach „Gesundheit“, deren Wiederherstellung wir heute noch „Heilung“ nennen. Es ist das Heilsein an Körper und Seele, das als ein Ganzsein zu verstehen ist: „heil“ heißt wörtlich „ganz“ (englisch whole, griechisch holos). Deshalb wird es zum Begriff für das Wohlsein, Glück und Gelingen des ganzen Lebens, und deshalb ist auch die Heilswirkung des Rituals umfassend und ebenso irdisch und handfest wie spirituell.

      Die Erfahrung lehrt allerdings, dass die Menschen nicht auf allen Gebieten gleich gesegnet sind. Einer ist ein erfolgreicher Bauer, ein anderer hat Glück auf Reisen oder im Kampf, ein dritter hat reiche Nachkommenschaft und ein vierter kann gut reden – er hat Ernteheil, Fahrtheil, Kampfheil, Kinderheil oder Wortheil, wie es in nordischen Texten genannt wird. Heil ist damit auch die spezielle Konstellation der Chancen und Tüchtigkeiten, das besondere Glück und das Schicksal, das einen Menschen bestimmt und von anderen unterscheidet. So hat jeder sein eigenes, ihm gehörendes Heil, das ihn formt. Es ist seines, doch er verdankt es weder sich selbst noch ist es eine persönliche Gnade, die von den Göttern willkürlich an einzelne Menschen verteilt wird.

      Das Heil, das jemand hat, ist das Erbe seiner Ahnen, die es in vielen Generationen erworben haben und an ihre Nachkommen weitergeben, also kein individuelles, sondern Sippenheil. Es hat schon vor der Geburt des einzelnen existiert und schon die bestimmt, von denen er sein Leben hat und durch die er wurde, was er ist. Denn als Ganzheit ist der Mensch nicht von seiner Herkunft und Gemeinschaft zu trennen.

      Nach germanischer Auffassung ist die Sippe nicht die bloße Summe genetisch verwandter Individuen, sondern eine wirkliche Einheit. Die Verwandten sind ein Körper und eine Seele. Man kann keinen von ihnen beleidigen, ohne alle zu kränken, und keinen ehren, ohne die Ehre aller zu mehren. Aus der Sippe empfängt der einzelne seine Identität und sein Heil, und genauso liegt umgekehrt das Heil der Sippe in den Händen jedes einzelnen ihrer Angehörigen. Weil alles, was er erreicht oder erleidet, seine Sippe als ganze betrifft, ist er nicht nur für sich allein verantwortlich, sondern in allem auch für sie.

      Für die Heilswirkung des Rituals heißt das, dass sie – von rein persönlichen Ritualen abgesehen – niemals nur individuell ist, sondern immer die ganze Sippe oder, wenn größere Gemeinschaften feiern, das Dorf, den Stamm oder das ganze Volk betrifft. Wer gut opfert, wird das Heil aller stärken, und wer es schlecht tut oder ganz unterlässt, wird das Heil aller schwächen. Deshalb ist in heidnischen Kulturen die Teilnahme an bestimmten Ritualen Pflicht. Wer sich weigert, gefährdet das Heil der Gemeinschaft.

      Zweitens hängt sie nicht von der Gnade der Götter ab, sondern davon, ob und wie viel Heil in den Teilnehmern und im Ritual selbst ist. Heilinge – Menschen, die viel Heil haben – lassen die ganze Festgemeinschaft an ihrem Heil teilhaben, und ebenso gewinnt diese vom Heil, das in natürlichen Kraftplätzen, alten Kultorten, heiligen Gegenständen und im Ritual selbst liegt. Manche Orte, aber auch einzelne Wesen wie Bäume oder Tiere können genauso wie Menschen Heilinge sein und ihr Heil weitergeben. Kultorte und heilige Gegenstände, besonders wenn sie Erbstücke sind, haben das Heil ihrer Besucher, Besitzer und Verwender aufgenommen, und aus demselben Grund liegt auch in einem Ritual selbst Heil.

      Daher ist der dritte Faktor, der seine Heilswirkung bestimmt, die Tradition. Nur wenn es forn siðr, die Sitte der Ahnen ist, kann es das gleiche Heil entfalten, das ihm, wie Tacitus vom Stammesritual der Semnonen sagt, die „Weihungen der Vorväter und uralte Frömmigkeit“ auch in alter Zeit gaben. Heutige und Vergangene müssen vereint sein. Es braucht den gemeinsamen Geist, aber auch Formen, die uns mit den Ahnen verbinden: Handlungen, Worte und Gesten, in denen ihr Erbe lebendig ist. Neben den traditionellen Ritualen, die leider nur bruchstückhaft überliefert sind, brauchen wir heute auch neue, die aber aus dem Geist der Tradition wachsen müssen.

      Schließlich haben wir im Ritual selbstverständlich auch am Heil der Götter teil, die in ihm gegenwärtig sind. Das ist keine Segnung nach menschlichem Maß. Es ist etwas Göttliches: das Heil, das Odin, Thor oder Freyja selbst haben, strahlt im Ritual auf uns aus und erfüllt uns.

      Die Ahnen, von denen wir unser Heil haben, sind auch das natürliche Band, das uns mit dem Ursprung allen Heils in der Natur und den Göttern verbindet. In ihnen finden wir die Rückverbindung zum heiligen Ursprung, die – worauf sich die ebenfalls mögliche Ableitung von religio aus religare, wiederverbinden, stützt – das Ziel aller Religionen ist. Das Heidentum sieht den Menschen nicht als isoliertes Individuum, das einem jenseitigen Gott gegenübersteht und sich sozusagen quer zur Natur und Welt an ihn bindet. Als Teil der Natur finden wir auch den Weg zu den Göttern über die natürliche Grundlage unseres Seins – über die Kette der Generationen, die bis an den Anfang der Menschheit und des Lebens überhaupt zurückreicht: zur Mutter Erde und den Göttern, die in der Natur und eins mit ihr sind.

      Die Verbindung zum heiligen Ursprung ist uns daher von Geburt an gegeben und muss durch das Ritual nicht erst hergestellt werden. So wie wir unser Heil nicht erst erbitten müssen, sondern geerbt haben, tragen wir in uns auch ein Band zu den Göttern, das naturgegeben und unverlierbar ist. Was dem Ritual zu tun bleibt, ist lediglich, es bewusst und erlebbar zu machen, in den Teilnehmern auch das subjektive Gefühl der Verbundenheit zu stärken, das ihrer objektiven Gegebenheit entspricht, und in regelmäßig wiederkehrender enger Gemeinschaft mit den Göttern das Band zwischen ihnen und uns zu stärken und stets aufs Neue mit Leben zu erfüllen.

      Das Ritual ist nicht selbst die Rückverbindung zum heiligen Ursprung, aber es feiert und festigt sie und lässt uns die Verbundenheit von Sippe und Freunden, Ahnen, Natur und Göttern erleben.

      Diese Verbundenheit ist im wahrsten Sinn des Wortes Angehörigkeit, denn die Einheit von Natur und Göttern bedeutet, dass wir mit beiden auf gleiche, natürliche Weise verwandt sind. Der göttliche Grund des Seins liegt nicht jenseits des Physischen, sondern ist eins mit ihm. Deshalb können Mythen regelrecht von der Abstammung einer Sippe oder eines ganzen Volkes von den Göttern berichten: der Wälsungen und der angelsächsischen Könige von Wodan, der schwedischen Ynglinge von Freyr oder der mythischen Urstämme der Germanen von den drei Enkeln des erdgeborenen Gottes Tuisto.

      Hierin zeigt sich deutlich, worum es bei diesen Mythen geht: nicht um die Mystifizierung eines bestimmten Stamms oder Volkes und auch nicht um die Verherrlichung von Fürstensippen, obwohl diese ihre Abstammungsmythen bei Gelegenheit auch dazu missbraucht haben. Der ursprüngliche Sinn ist die Einheit von Erde und Göttern, natürlichem und göttlichem Ursprung, durch die wir nicht „Fremde in der Welt“ und in ihr „fern von Gott“ sind, sondern Natur und Göttern zugleich angehören.

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