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Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle
Читать онлайн.Название Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete
Год выпуска 0
isbn 9783865068323
Автор произведения Albrecht Gralle
Жанр Юмористические стихи
Издательство Автор
Natürlich werde ich ihn als Sondergast für den Pfarrkonvent in Wittenberg vorschlagen. Ich werde ihnen sagen, dass ich einen Schauspieler gefunden habe, der sich hervorragend in die Lutherrolle eingelebt hat. Vielleicht wäre das sogar etwas für die Jubiläumsveranstaltung, zu der ich eingeladen wurde.
Toll, dass der obere Saal im Lutherhaus für den Abschluss zur Verfügung steht. Da kann er in seinem eigenen Haus reden.
Was wird er überhaupt mit den Juden anfangen, wenn ich ihn nach Göttingen zu dem jüdischen Lehrhaus mitnehme? Vielleicht zu riskant. Seine antisemitischen Äußerungen sind ja sehr drastisch. Aber egal, ob es nun der echte Luther ist oder nicht. Der Mann ist überzeugend und hat wirklich Ahnung, spricht flüssig Latein und macht sich Gedanken zur Übersetzung des Buches Genesis. Egal, ob er echt ist oder nicht … Zeit mit ihm zu verbringen, wird in jedem Fall eine Abwechslung sein.
Er hat mir gesagt, er sei im Juni 1545 in unsere Zeit versetzt worden. Ich habe nachgeschlagen und festgestellt, dass er im Februar 1546 sterben wird. Aber das darf er nie erfahren. Selbst wenn er den Luther nur spielt und sich mit ihm stark identifiziert, könnte er in eine Krise geraten, wenn er liest, dass er demnächst sterben wird. Ich muss meine Lexika vor ihm verstecken. Wenn er aber 1546 stirbt, dann wird er ja wieder in seine Zeit zurückfinden. Immerhin ein Trost für ihn.
Meine Güte – jetzt gehe ich auch schon davon aus, dass es der echte Luther ist!!!
Auf jeden Fall muss ich anderen gegenüber vorsichtig sein und so tun, als sei er ein Schauspieler. Die Zeitreise glaubt mir ja sowieso niemand.
Ob er merkt, dass ich gar nicht an Gott glaube? Ich werde es ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden!
5
„Ja? Bergmann?“
„Hallo Gert. Ich bin’s – Andreas, dein Schwager.“
„Ja, du stehst auf meinem Display.“
„Hast du gerade fünf Minuten Zeit?“
„Sogar zehn Minuten.“
„Wunderbar. Hör mal, ich beschäftige mich gerade mit Zeitreisen. Hab einen Film gesehen, und weil du ja mal Physik studiert hast …“
Bergmann lachte: „Du interessierst dich für Physik? Ich dachte, alte Sprachen seien dein Hobby …“
„Nicht nur. Ich hab schon als Jugendlicher Science-Fiction-Romane gelesen!“
„So? Welche denn?“
„Soll das ein Verhör sein? Zum Beispiel die Kurzgeschichten von Stanislav Lem.“
Es entstand eine Pause. Schließlich sagte Gert: „Zeitreisen gibt es schon, in kleinen Häppchen …“
„Was? Echt?“
„Ja, wenn du mit einem Raumschiff mit einer Geschwindigkeit, die in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit kommt, sagen wir mal, zehn Jahre durch den Weltraum fliegst, und du kommst dann auf die Erde zurück, bist du ein paar Monate oder Jahre jünger, als wenn du auf der Erde geblieben wärst. Die Zeit ist relativ. Insofern bist du in die Zukunft der Erdbewohner gereist …“
„Ach so.“
„Klingt ja nicht begeistert …“
„Ich meine, ist es möglich, dass jemand … sagen wir, aus dem Mittelalter plötzlich bei uns auftaucht?“
Sonnhüter sah förmlich vor sich, wie sein Schwager den Kopf schüttelte. „Wie gesagt: Ein bisschen in die Zukunft könnte möglich sein, aber nicht in diesen Zeiträumen. Und andersherum, also Reisen in die Vergangenheit, geht überhaupt nicht. Das scheitert am Großvaterparadoxon.“
„Dem was?“
„Stell dir vor, es würde dir gelingen, in die Vergangenheit zu reisen und deinen eigenen Großvater zu erschießen …“
„Das würde ich nie machen!“
„Ist doch egal. Aber nur mal angenommen. Dann würdest du etwas tun, das deine eigene Existenz auslöscht. Du wärst nie geboren worden und könntest deshalb auch deinen Großvater nicht erschießen. Man verstrickt sich in irrsinnige logische Widersprüche.“
„Also keine Zeitmaschine …“
„Na ja, es gibt theoretisch noch die Möglichkeit, dass jemand aus einem Paralleluniversum bei uns landet, dessen Planet noch ein Zeitalter zurückliegt. Das käme uns dann so vor, als ob jemand aus der Vergangenheit bei uns auftaucht.“
„Hm. Aber du denkst, dass jemand aus dem Mittelalter durch einen Blitz bei uns landet, das ist … unmöglich?“
„Das ist möglich – allerdings nur in Hollywood.“
„Na ja, vielen Dank. Hat mich mal interessiert.“
„Nichts zu danken. Also, du brauchst nicht zu befürchten, dass jemand aus dem Mittelalter an deiner Tür klingelt.“
„Alles ist möglich“, brummte Sonnhüter, legte auf und ärgerte sich, dass er schon wieder einen biblischen Ausdruck gebraucht hatte.
6
Luther wunderte sich, wie leicht die Bücher heutzutage waren und wie viele Exemplare dieser einfache Pfarrer in seiner Bibliothek untergebracht hatte. Er musste ein reicher Mann sein.
Die „Tschiens“, wie Andreas die dicken Hosen genannt hatte, fühlten sich steif und schwer an. Da waren die engen Beinlinge, die Luther unter der Kutte trug und die man mit Bändern am Gürtel befestigte, bequemer gewesen.
Aber über den „Rasierapparat“ hatte Luther noch mehr gestaunt. Winzige Räder und Messer, die sich von selbst bewegten. Überhaupt bewegten sich die Dinge in diesem Jahrhundert fast alle von selbst: Rührlöffel, Spülmaschinen, die Messer einer lauten Sense, das Wasser, das durch einen Hebel plötzlich aus einem unsichtbaren Brunnen strömt, und vor allem die Bilder in dem magischen Spiegel. Sonnhüter hatte ihm erklärt, dass diese selbstbewegenden Dinge keine Magie waren, sondern dass man die Stromkraft entdeckt hatte, die in Gottes Schöpfung gewissermaßen eingewickelt gewesen war – und die die Menschen nun ausgewickelt hatten und benutzten.
Luther würde dieses Zeitalter, in dem er jetzt lebte, das „Selbstbewegte Zeitalter“ nennen.
Worüber er insgeheim staunte, es aber nicht sagte, das waren die Weiber mit ihren kurzen Röcken und den Männerhosen. Manchmal blieb ihm der Mund offen stehen, wenn er eine Frau mit abgeschnittenen Hosen entdeckte.
Im Augenblick saß Luther auf Sonnhüters Terrasse, hatte die Beine hochgelegt und trank Apfelsaft. Auf seinen Knien lag eines dieser leichten Bücher, und er versuchte gerade, die neue deutsche Sprache zu verstehen. Das Buch trug den merkwürdigen Titel „Pünktchen und Anton“. Bevor ihm Sonnhüter die deutschen Fürstentümer zeigen wollte, sollte er sich in dieser neueren Sprache besser auskennen. Sie kam ihm irgendwie blasser und leerer vor als seine eigene, als ob man alle Verzierungen abgeschnitten habe. Den Konjunktivus las man nur selten.
Auch vollkommen neue, unverständliche Wörter tauchten auf. Luther hatte zu diesem Zweck einen Zettel und einen Bleistift neben sich liegen und schrieb gerade das Wort