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aus, denn es herrscht Mangel an neuer Kleidung, die rationiert und meistens nicht zu kriegen ist (für uns; die Deutschen und ihre Kollaborateure prunken). Zu allen Jahreszeiten gehen wir mit leeren Einkaufstaschen durch Paris, um uns stundenlang für eine Handvoll alte Bohnen oder ein Glas Marmelade anzustellen. Niemand fährt Auto außer den Deutschen. Fahrräder sind die Lebensader, und wenn ein Schlauch kaputtgeht, muss man ihn reparieren, um zu überleben. Also standen die Menschen in dem Zug wie die Ölsardinen und beobachteten einander und überlegten, was jeder an Essbarem hamstern wollte und was er dafür eintauschte. Wir hatten ein paar Stücke Seife und ein Stück leicht räudigen, aber immer noch warmen Biberpelz, den jede geschickte Hausfrau zu einem Muff verarbeiten oder auf einen Mantelkragen nähen kann, und eine gute wollene Hose von Papa, die wir äußerst ungern weggeben, aber wir hatten Angst, sie würde von den Motten zerfressen. Wer weiß, wann wir Papa wiedersehen? Im Mai hat er sich einen Ausweis auf den Namen eines Toten gekauft, um in die unbesetzte Zone zu gelangen und eine von uns über Marseille nach Amerika zu schicken. Ich weigerte mich zu gehen, weil ich für mein bac lernte, das ich mit fliegenden Fahnen bestanden habe. Papa hat stattdessen Nadine mitgenommen, und wir haben ihn seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl wir regelmäßig von ihm hören.

      Als wir heute zurückkamen, herrschte heilloses Durcheinander. Während wir fort waren, haben die Nazis das gesamte Elfte Arrondissement abgeriegelt, die Metrostationen geschlossen und sind eingerückt. Sie haben Juden auf den Straßen verhaftet, in Cafés und Restaurants, beim Anstehen in den Schlangen – wir tun ja tagaus, tagein nichts anderes – und sogar in ihren Wohnungen. Die Balabans sind spurlos verschwunden. Zwei Tage lang bin ich für Maman in Paris herumgerannt, denn sie weinte und weinte, und habe herauszufinden versucht, was man mit ihnen gemacht hat.

      24 août 1941

      Heute habe ich erfahren, dass die Balabans in einer Art Lager in Drancy sind, einem Eisenbahnknotenpunkt nur ein paar Kilometer außerhalb von Paris. Maman ist sehr erleichtert zu wissen, wo sie sind. Wir müssen sie aufsuchen und fragen, was sie brauchen. Ihre Wohnung ist verwüstet, alles auf den Boden geworfen und aufgeschlitzt. Nachbarn sagen, das war die Polizei. Wenn sie nach den sagenhaften Reichtümern gesucht haben, die solche Kerle bei Juden immer zu vermuten scheinen, dann haben sie umsonst gewühlt, denn die Balabans besaßen kaum mehr als die Kleider am Leibe und ein paar wackelige Möbelstücke vom Trödler.

      26 août 1941

      Es wird immer übler. Vor etwas mehr als einer Woche kam es zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei – sowohl gendarmes als auch deutsche Polizei – an der Porte Saint-Denis und der Porte Saint-Martin, und viele Leute wurden verhaftet, obwohl sich die Demonstrationen nicht von hundert anderen unterschieden, wie sie für jeden, der die letzten zehn Jahre in Paris gelebt hat, zum normalen Alltag gehören! Jedenfalls haben die Deutschen zwei von den Verhafteten hingerichtet. Um den einen machen sie besonderes Trara, weil er Jude ist, und sie setzen ihn in großen Lettern auf alle Plakate als »DER JUDE SZMUL TYSZELMAN«.

      Henri sagt, das ist nur der Nazi-Wahn, und die Leute werden sie irgendwann auslachen, und dann kommt es zu Massenungehorsam, aber mir ist seine Einstellung dieser Tage zu optimistisch. Er hat mir heute ein wunderschönes Geschenk gebracht – fünf Kilo Kartoffeln und ein kleines Stück Hammelfleisch. Maman war außer sich vor Freude, obwohl ihre zweite Frage natürlich war: Schläfst du mit ihm? Wenn ich es täte, Maman, habe ich gesagt, vielleicht hätte er mir dann ein größeres Stück Hammelfleisch geschenkt! Sie holte aus, als wollte sie mich ohrfeigen, aber dann tat sie es nicht, weil sie in Wahrheit viel zu glücklich über das Hammelfleisch war und auch über die Kartoffeln.

      Der Bruder seiner Mutter hat 25 Kilometer Richtung Norden einen Bauernhof, also ist er am Samstag mit dem Fahrrad hingefahren und am Sonntag mit Paketen beladen zurück. Wir hatten heute Abend ein Festessen, und Maman wird es über die nächsten zwei Tage strecken. Es ist so lange her, dass wir etwas anderes zu essen hatten als Suppe aus Viehfutter und Kräuterextrakt und ein bisschen verfaultem Gemüse, Bohnen Bohnen Bohnen Bohnen Bohnen und hin und wieder ein dünnes Scheibchen Käse, heruntergespült mit Ersatzkaffee und Kräutertees. Ab und an pro Person ein Ei.

      Letzten Monat hatten wir unsere Brotzuteilung schon am zwölften aufgebraucht, und obwohl wir uns diesen Monat solche Mühe gegeben haben, war sie am siebzehnten alle. Wir hätten sie noch eher aufgezehrt, aber wir »organisieren« alle, was wir können, und meine copains, die Clique im Café Le Jazz Hot, laden mich fast jeden Tag ein. Die meisten von ihnen haben gute Schwarzmarktbeziehungen. Natürlich ist es viel leichter, wenn man kein Jude ist, aber ich kann mich nicht beklagen, da sie mit mir teilen.

      Ich schreibe das heute Abend mit vollem Bauch, und es ist verblüffend, wie stark und wach ich mich fühle. Gleich nach dem Essen bin ich fast eingedöst. Wir saßen um den Tisch in der salle à manger, Maman, Renée und ich, und strahlten uns an. Wir fühlten uns friedlich wie Kühe auf der Weide, wobei ich mich nicht schämte, dass meine Seligkeit auf einem ausnahmsweise mal wohlgefüllten Magen beruhte, denn ich weiß inzwischen, wie schwierig es ist, sich mit einem leeren zu konzentrieren.

      Es muntert mich auch auf zu wissen, dass wir morgen oder übermorgen keinen Hunger leiden werden. Ich kann mich den Problemen unseres Lebens mit stabilerer Kraft und weniger auf Kosten meiner Nerven stellen. Ich konnte nicht sagen, ob mir das Lammfleisch besser geschmeckt hat oder die Kartoffeln. Sogar die Kohlrüben, die wir verabscheuen und jeden Tag essen, schmeckten in dem Schmortopf fast essbar. Letzte Woche hat mir Céleste eine Tüte Möhren verkauft, die mindestens zwei Kilo gewogen haben muss. Maman hatte noch zwei davon für unseren großartigen Schmortopf.

      Nahezu unser ganzes Leben verbringen wir mit Schlangestehen. Maman hat immer noch ihre Arbeit bei dem Kürschner, obwohl M. Cariot die Firma weggenommen worden ist. Sie beschlagnahmen alle jüdischen Unternehmen. Der Mann, der das Geschäft übernahm, hat die Juden nicht wie erwartet entlassen, denn er sagt, wie soll er ein Fachgeschäft führen ohne Fachkräfte? Maman sagt, wir haben großes Glück. Renée und ich besorgen das meiste Schlangestehen, aber ich kann es besser, weil ich größer bin, während Renée weggedrängelt wird. Ich kann inzwischen im Stehen lernen, und so lese ich das meiste für mein Studium beim Schlangestehen.

      Als Neuestes haben die Deutschen angekündigt, dass alle, die aus irgendeinem Grund verhaftet werden – und über die Hälfte aller Verhafteten sind Leute, die nach Beginn der nächtlichen Ausgangssperre aufgegriffen wurden –, in Zukunft als Geiseln gelten. Man ist also ins Gespräch vertieft und versäumt die letzte Metro um 23 Uhr, und wenn einen dann nicht nette Freunde über Nacht beherbergen, wie Céleste es mehrere Male getan hat und Henri und Albert wie Gentlemen einmal, hat man Pech gehabt. Henri und Albert wohnen gleich den Hügel rauf bei der Sorbonne, in einer schmutzigen kleinen Seitenstraße, aber bequem gelegen. Maman geht an die Decke, wenn ich über Nacht wegbleibe. Ich tue das nicht absichtlich, aber hin und wieder verpasst jeder die letzte Metro. Dieses Dekret bedeutet, wenn ich bei irgendeinem kleinen Verstoß gegen die Vorschriften gefasst werde, dann können sie mich eines Morgens an die Wand stellen und erschießen, weil irgendein Hitzkopf einen Schuss auf einen deutschen Offizier abgegeben hat. Ich verstehe nicht, was die Deutschen mit dieser Brutalität erreichen wollen. Meinen sie, wenn irgendeine arme Tellerwäscherin, die ihre Bahn versäumt hat, als Vergeltung für eine Aktion einer der neuen Widerstandsgruppen erschossen wird, dann werden die Gaullisten oder die Kommunisten unweigerlich eingehen und verdorren?

      Fast hätte ich es vergessen: Bei den Balabans sind schon andere Leute eingezogen. Sie haben die armseligen Sachen der Balabans auf die Straße geworfen, damit die Nachbarn alles durchwühlen können, aber die Küchenmöbel haben sie behalten. Ich weiß nicht, was die Balabans machen sollen, wenn sie zurückkommen. Ich hoffe nur, Mamans Familiensinn verleitet sie nicht dazu, sie aufzunehmen. Ohne Papas Verdienst haben wir mein Zimmer im obersten Stock aufgeben müssen. Maman teilt mit Renée ihr Doppelbett, und ich schlafe auf dem Klappbett in der salle à manger.

      8 septembre 1941

      Ich kam von meinem Schauspielunterricht und musste den Boulevard des Italiens entlang. Ich war gerade in Gedanken völlig mit der Berenice in Racines großer Tragödie beschäftigt, mit der ich mich in mancher Hinsicht ohne weiteres identifizieren kann, als ich eine große Menschenmenge sah, die vor dem Palais Berlitz Schlange stand.

      »Was gibt

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