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Schirach. Oliver Rathkolb
Читать онлайн.Название Schirach
Год выпуска 0
isbn 9783990405987
Автор произведения Oliver Rathkolb
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Автор
Schirachs Vater war als Intendant am Großherzoglichen Hoftheater in Weimar Teil einer bürgerlich-deutschnationalen Elite in der Stadt Goethes und Schillers, in der auch Nietzsche und Liszt verehrt wurden, die aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg deutschnational, antidemokratisch und vielfach völkisch-antisemitisch eingestellt war. Für sie wurde die Weimarer Republik zum totalen Feindbild. Dass die Nationalversammlung seit Februar 1919 monatelang die neue demokratische Verfassung gerade in Weimar diskutierte und letztlich auch beschloss, steigerte noch die emotionale Ablehnung durch die traditionellen Eliten und prägte Baldur von Schirachs autoritäres und extrem nationalistisches Politikverständnis maßgebend. Die Sehnsucht nach der Rückkehr der Monarchie wurde rasch durch die Suche nach einer neuen starken völkischen Diktatur abgelöst – Hitler wurde ab 1925/26 zur Erlöser-Figur für die Schirachs.
Zwar lernte Baldur von Schirach Hitler 1925 zwei Mal nur flüchtig kennen, aber schon früh projizierte er eine besonders Ehrerbietung auf den ehemaligen »Gefreiten« Hitler, der zwar kein Offizier gewesen war, aber trotzdem das EKI erhalten hatte. In dieser Verehrung des Weltkriegsveteranen Hitler spiegeln sich deutlich seine Prägungen durch die Herkunft aus einer Offiziersfamilie. Schirach trat verschiedenen jugendlichen antidemokratischen und völkischen Wehrformationen bei, ehe er mit 18 Jahren Mitglied bei der NSDAP und SA wurde. Auch sein Vater, ehemals Rittmeister eines vornehmen Kaiserlichen Garde-Kürassier-Regiments in Berlin, folgte bald als NSDAP-Mitglied und Gründungsmitglied des antisemitischen »Kampfbundes für Deutsche Kultur«.
Nach einer Blitzkarriere ab 1927 im NS-Studentenbund wurde Baldur von Schirach Teil des engsten Umfelds des »Führers«. 1931 avancierte er zum Reichsjugendführer und wurde direkt der obersten SA-Führung unterstellt. Er heiratete Henriette, die Tochter des vermögenden Hitler-Leibfotografen Heinrich Hoffmann, und knüpfte dadurch das Band zum »Führer« noch enger. Geschickt brachte er seine propagandistischen Fähigkeiten ein und konnte mit dem Bildband Hitler wie ihn keiner kennt, den er zusammen mit seinem Schwiegervater herausgab, einen ersten großen Marketingerfolg landen: Schirach machte Hitler sowohl bei einem bürgerlichen als auch einfacheren Publikum bekannt. 1931 wurde er jüngster Reichstagsabgeordneter, wobei die NSDAP jene Fraktion mit dem höchsten Adeligen-Anteil darstellte, und verblüffte Hitler mit einem »Reichsjugendparteitag« in Potsdam mit 70.000 begeisterten Teilnehmern.
Schon 1936 hatte Schirach rund 6 Millionen Jugendliche in der Hitler-Jugend zusammengefasst – immer mit dem Trick der jugendlichen Selbstverwaltung, aber klaren ideologischen Zielen im nationalsozialistischen Sinn, die in teilweise spielerischer Form, aber immer in disziplinierten und kontrollierten Strukturen vermittelt wurden. Zunehmend wird die HJ durch entsprechende Rechte zu einem Überwachungsinstrument in den Schulen.
Doch Schirach wollte mehr und strebte nach der totalen Kontrolle des Jugenderziehungswesens und der Schule, verlor aber diesen Machtkampf mit der Unterrichtsbürokratie. Die Entsendung nach Wien war bereits der Beginn des politischen Abstiegs, aber Schirach baute zum steigenden Missfallen von Propagandaminister Goebbels, mit dem er sich ursprünglich gut verstanden hatte, ein Kulturimperium auf und hofierte Richard Strauss und dessen jüdische Schwiegertochter Alice ebenso wie Gerhart Hauptmann.
Inwieweit Schirach tatsächlich Hitler vor dem Angriff auf die Sowjetunion bzw. dem Krieg mit den USA gewarnt hat, wird ebenso diskutiert wie die Auseinandersetzung zwischen Hitler und Henriette von Schirach am Berghof wegen der brutalen Deportation der Juden aus den Niederlanden. Gleichzeitig brüstete sich Schirach zum Missfallen von Goebbels, der internationale negative Reaktionen fürchtete, mit der Deportation der Wiener Juden (»Ich habe Wien Judenfrei gemacht«) und kündigte an, Wien »tschechenfrei« zu machen –tatsächlich begann die Gestapo entsprechende Karteien anzulegen.
Schirach hatte durchaus politische Ambitionen, die weit über seinen Gau hinausgingen: So nützte er geschickt die Propaganda um den 150. Todestag von Wolfgang Amadeus Mozart 1941, um eine Art »Europäische Ideologie« unter deutscher Führung zu propagieren und damit die deutsche Besetzung weiter Teile Europas langfristig zu rechtfertigen und mit kultureller Hegemonie abzusichern. Hier intensivierte er seine alten Kontakte mit den faschistischen italienischen Jugendführern, organisierte europäische Jugendkongresse und Journalistentreffen. Letztlich wollte Hitler zwar Schirach ablösen lassen, da dieser Wien nicht als Festung verteidigen wollte, aber wagte diesen Schritt doch nicht, da Schirach die Stadt kulturpolitisch fest im Griff hatte und sehr rasch dann auch auf einen militärischen Verteidigungskurs umschwenkte.
In letzter Minute ist Schirach vor der Roten Armee aus Wien geflohen, nicht ohne ab 1944 seine Kunstschätze aus der »arisierten« Villa auf der Hohen Warte in Döbling – viele davon aus dem Vermögen von Juden und Jüdinnen geraubt – Richtung Westen verbringen zu lassen.
Mit einer geschickten Verteidigungsstrategie beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1946 rettete er sich vor der drohenden Hinrichtung, wobei seine adelig-bürgerliche und teilweise amerikanische Herkunft ein Vorteil waren und auch seine Bereitschaft, für seine Rolle als Reichsjugendführer Verantwortung zu übernehmen, aber gleichzeitig deren Bedeutung als ideologische und militärische Vorfeldorganisation herunterzuspielen. Seine Erinnerungen und Reflexionen aus 1967 über Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus, die Rolle von Hitler und anderen NS-Akteuren und die Shoa und Antisemitismus werden ebenso kritisch auf der Basis seiner Original-Interview-Transkripte mit neuem Quellenmaterial und umfassenden Forschungen – nicht zuletzt im einzig digitalisierten Gaupressearchiv in Wien – hinterfragt.
Die zentrale Frage bleibt: Inwieweit ist die meist verdrängte ideologische Vorgeschichte der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich und seiner adelige-bürgerlichen Eliten vor 1914 ein wesentlicher Erklärungsansatz für die Wirkungsmacht und die lange Dauer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes? Als Folge der ersten Turboglobalisierung, Industrialisierung und europäischen Binnenmigration boomten bei gleichzeitiger Innovation um die erste Moderne antisemitische Rassen- und Verschwörungstheorien, die seit Ende des Ersten Weltkrieges in aggressiver Weise explodierten. Ihre elitären Protagonisten, zu denen auch Carl von Schirach, sein intellektuelles und künstlerisches Umfeld und sein Sohn gehörten, bekämpften in weiterer Folge die parlamentarische Demokratie und die Weimarer Republik permanent mit allen Mitteln. Diese intensive Erosion aus bürgerlichen rechtskonservativen Netzwerken heraus war eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der NSDAP vor und nach 1933. Der Ungeist von Weimar, der Goethe und Schiller in politische Geiselhaft genommen und für seine menschenverachtenden Ideologien missbraucht hatte, ist eine wichtige Voraussetzung für die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Längst wurde er von Angehörigen der »alten« kaiserlichen und bürgerlichen Eliten umschwärmt, wie der frühe Besuch im Hause Schirachs 1925 dokumentiert. Die rasche Systemstabilisierung nach der Machtergreifung trotz vielfacher eindeutiger Gesetzesbrüche und Terrorakte ist ohne diese andere Kulturgeschichte des deutschen Kaiserreiches, die die Schirachs symbolisieren, nicht zu verstehen.
Die Rezeption und das Wissen über Baldur von Schirach ist zum Unterschied von der Auseinandersetzung mit zentralen Entscheidungsträgern des NS-Regimes und Satrapen von Hitlers Gnaden wie Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Albert Speer brüchig und durchwachsen. Die erste umfassende Biografie Baldur von Schirach, Hitlers Jugendführer von Michael Wortmann erschien bereits 1982 auf Basis einer Doktorarbeit, die revisionistische Gegenschrift von Schirachs ehemaligem Pressereferenten Günter Kaufmann 1993 wurde zu Recht kaum berücksichtigt. Die auf den Literaten und Poeten