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beginnt er Zeitungsartikel, Gedichte und Geschichten zu schreiben, auch um, wie er mir selbst erzählte, dadurch einer Midlife-Crisis zu entgehen. Von 1961 bis 1983 ist Kurt Marti Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Als aktiver Teil der deutschen Friedensbewegung engagiert er sich im Kampf gegen Atomwaffen, Atomkraftwerke und die US-Intervention in Vietnam. In dieser Zeit lernt er auch Dorothee Sölle kennen, die neben Karl Barth wohl zu den wichtigsten Menschen gehört, ihn nachhaltig beeinflussen. 1972 verweigert ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern. Marti empfindet diese Ablehnung als „Auszeichnung“ sowie als Bestätigung dafür, dass sein sozialpolitisches Engagement richtig ist. In der ihm in der Folge von der Universität verliehenen Ehrendoktorwürde sieht Marti genüsslich ein Schuldeingeständnis.

      Im Jahre 1991 besuche ich das Ehepaar Marti in Bern, um mit Kurt Marti in seinem Haus ein Interview für die Kärntner Kirchenzeitung zu führen. Die Herzlichkeit, mit der ich dort aufgenommen werde, überwältigt mich. Unser Interview ist schnell erledigt, das daran anschließende persönliche Gespräch dauert bis spät in den Abend hinein. Kurt Marti erzählt mir von der Zeit, in der er so alt war, wie ich jetzt, und welche Strategien er damals gegen die Midlife-Crisis fand. Dabei wachsen mir Flügel und ich fasse mir ein Herz, diesen beiden wunderbaren Menschen über meine bisher geheimen Pläne zu erzählen, den kirchlichen Dienst in Richtung weltliche Seelsorge zu verlassen. Frau Marti fragt genau nach, lädt mich ein, genauer von meinen Plänen und den damit verbundenen Ängsten zu reden, um mir dann zu sagen: „Nur Mut, es kann Ihnen nichts passieren! Vor Ihnen liegt ein wunderbarer Weg!“ Sie sollte recht behalten.

      Kurt Martis vielleicht bekanntestes Buch sind seine „Leichenreden“ – „Nekrologe jenseits aller Abdankungsrhetorik“, wie Manfred Papst im Vorspann schreibt. Papst ist davon überzeugt, dass bei der Lektüre nicht nur ein lügengeplagter Pfarrer, sondern auch eine an offenen Gräbern immer noch zu findende lügengeplagte Sprache aufatmen könne. Ein solches Aufatmen kann auf Verlegenheitsfloskeln verzichten, die sich am offenen Grab in allzu billiges Trösten flüchten:

       dem herrn unserem gott

       hat es ganz und gar nicht gefallen

       dass einige von euch dachten

       es habe ihm solches gefallen

       im namen dessen der tote erweckte

       im namen des toten der auferstand:

      wir protestieren gegen den tod … 4

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      „Das kriege ich auf keine Bühne“

      Ich war neun Jahre Seelsorger in Klein St. Paul, einer kleinen Industriegemeinde in Kärnten. Eines Freitagabends ruft mich der Direktor des „Berliner Ensembles“, vormals Direktor des Wiener Burgtheaters, Claus Peymann, an und erkundigt sich nach den „Beginnzeiten meiner Wochenendvorstellungen“, verbunden mit dem Ansinnen, am kommenden Sonntag den Pfarrgottesdienst besuchen zu wollen. Um einem Theaterdirektor auch eine würdige „Vorstellung“ bieten zu können, bereite ich mich gründlicher als sonst auf meine Predigt vor. Tatsächlich erhalte ich (wie ich zunächst dachte, gerade dafür) von meinem liturgischen Gast auch ein fachmännisches Lob: „Was ich heute hier erlebt habe, kriege ich auf keine Bühne!“

      Sichtlich bewegt von der gemeinsamen liturgischen Feier lädt mich Peymann zum Mittagessen ein, um mir dort nach mehrstündigen Gesprächen zu erklären, worauf sich das Lob des großen Theatermachers bezieht. Was den Meister der Dramaturgie so beeindruckt hatte, war nicht die gründlich vorbereitete Predigt und auch nicht der an diesem Tag ganz bewusst eingesetzte liturgische Gesang des Zelebranten oder sonstige bemerkenswerte liturgische Details vom Glockenklang über Chorgesang bis hin zum dampfenden Weihrauchfass. Nein, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Moment der Wandlung, jenem kurzen Augenblick, in dem der Zelebrant eine unscheinbare Scheibe ungesäuerten Brotes in völliger Stille zum Himmel emporhebt. Dieser winzige Augenblick völliger Stille in einer kleinen Dorfkirche am Rande der Welt hatte es vermocht, einen routinierten, weltmännisch verwöhnten Theaterprofi für einen Moment außer sich und buchstäblich sprachlos sein zu lassen.

      Dieses Ereignis liegt nun schon bald zwanzig Jahre zurück. Inzwischen habe ich mein Priesteramt gegen das eines Psychotherapeuten eingetauscht. Geblieben aber ist mir eine ständig wachsende Leidenschaft für genau das, worum es damals in Klein St. Paul und in ungezählten anderen Momenten meines Lebens gegangen ist: Um erfüllte Stille, in der sich innere Wandlung vollzieht! Momente des Berührt-Werdens und Angerührt-Seins, in denen ich so da sein kann, dass ich davon „ganz weg“ bin.

      In solchen Momenten wird der Alltag zum Erlebnis: Aus Brot und Wein wird Kraft und Freude, aus dem Alltag der Augenblick, aus der Gewohnheit die Innigkeit, aus Wiederholung Einmaligkeit, aus Routine innere Berührung, aus der Reprise eine Weltpremiere. Seit jener Begegnung mit Claus Peymann weiß ich: Die Vermittlung spiritueller Erfahrung und deren Vertiefung hat keine Berufsgruppe für sich allein gepachtet, so wie auch die spirituelle Erfahrung selbst kein Vorrecht für religiöse Gemeinschaften bleibt.

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      Margarete Mitscherlich

      Margarete Mitscherlich (1917–2012) war eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Nach dem Studium der Literatur und der Medizin arbeitete sie als Ärztin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und begründete gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das „Sigmund-Freud-Institut“ in Frankfurt am Main. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich mit der, wie sie es selber nennt: „Mühsal der Emanzipation“, beschäftigt. Mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann im Jahr 1967 eine Diskussion über Schuld und Mitschuld an den politischen Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus entfacht.

      Am 19. April 2005 wurde ihr von den Wiener Vorlesungen der Stadt Wien der Erwin-Chargaff-Preis verliehen. Margarete Mitscherlich, die „Grande Dame“ der Psychoanalyse, saß mit uns am Tisch, wir erzählten von unserer Arbeit, sie von ihrer. Wenige Tage zuvor war Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 in Rom gestorben. Einer meiner Therapeutenkollegen erzählte davon, wie er die Liveübertragung des Papst-Begräbnisses am 8. April 2005 im ORF „in Echtzeit“ miterlebt und dabei Gänsehaut und Angst bekommen hätte. Vier Millionen Menschen hätten sich rund um den Petersplatz in Rom versammelt und in nicht enden wollenden Sprechchören gerufen: „Santo subito!“ – „Mach ihn sofort zum Heiligen!“

      Adressat dieses Zurufs war der damals noch nicht gewählte, neue und jetzt emeritierte Papst Benedikt XVI. Adressat dieser Erzählung meines Kollegen war an diesem Abend neben Mitscherlich ich, weil er bei mir in diesem Kreis die größte Nähe zur katholischen Kirche vermutete. Obwohl es mich gereizt hätte, hielt ich mich mit einer Antwort zurück. Gerade in diesem Zusammenhang hatte er ein Thema auf den Tisch gebracht, das mich seit Langem beschäftigte, hier und zu diesem Anlass aber unpassend schien: dass nämlich das kirchengeschichtlich Besondere an dieser Situation damals die Tatsache war, dass die Menschen damit die Heiligsprechung eines Mannes forderten, der als Papst das Kunststück zuwege gebracht hatte, in seiner Amtszeit mehr als doppelt so viele Heilig- und Seligsprechungen vorzunehmen wie alle seine Vorgänger in 2000 Jahren Kirchengeschichte zusammen. Professor Max Friedrich, der diese Runde zusammengerufen hatte, gab uns gegen 22 Uhr zu verstehen, dass es aus Rücksicht auf unseren fast 88-jährigen Gast an der Zeit wäre, unser Abendessen zu beenden. Wir verabschiedeten uns voneinander und waren beeindruckt von der Frische und Lebendigkeit dieser großartigen Frau. Zu Hause in der Kochgasse, nicht weit entfernt vom Restaurant, arbeitete ich noch still vor mich hin und erschrak, wie schnell es Mitternacht geworden war. Ich schaltete noch schnell den Fernseher ein – und sah als Interviewgast in der ZIB 3 Margarete Mitscherlich!

      Sie war also nicht, wie wir vermutetet hatten, nach Hause gefahren, um sich auszuruhen, sondern ins ORF-Studio, um dort noch zur Mitte der Nacht ein Interview zu geben. Da saß sie nun! Und da saß ich und hörte ihr gespannt zu und notierte mir jedes Wort, dankbar dafür, ihr an diesem Abend persönlich begegnet zu sein. Abschließend wurde sie von der Moderatorin gefragt: „Was sind

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