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die Augen. Die Erinnerung holt mich ein.

      Carsten hatte die Rose gepflanzt. Es war kurz nach unserem Einzug in das Haus. Eines Tages hatte er sie mitgebracht und mir erzählt, er hätte sie von dem unbenutzten Grundstück am Ende der Straße stibitzt. Er hatte mich dabei verschwörerisch angeschaut und einen Finger auf seine Lippen gepresst. »Das bringt Glück. Ich liebe dich und werde immer zu dir stehen«, hatte er mir ins Ohr geflüstert und mich dann ganz fest in die Arme geschlossen.

      Er hatte Wort gehalten. Später war er den Kindern ein liebevoller Vater. Er hatte meine Launen ertragen und mir im Haus und im Garten geholfen, solange auch ich berufstätig war.

      Das ist Jahre her und jetzt, ausgerechnet jetzt, spüre ich wieder diese Wärme und Geborgenheit, die er uns immer gegeben hat.

      Langsam gehe ich ins Haus zurück.

      An der Garderobe hängt ein Einsteckschal von Carsten – mit Punkten. Ich streiche zärtlich darüber und lasse ihn lächelnd durch meine Finger gleiten. Dann vergrabe ich mein Gesicht in ihm und atme den vertrauten Geruch tief ein.

      NUR EIN FOTO

      Wenn ich die Augen schließe um mich Erinnerungen hinzugeben, bin ich in meiner Kindheit im Alter von sechs oder sieben Jahren.

      Unser Vater war für mich nicht mehr als ein vergilbtes Foto in der Schublade einer Flurkommode, eine Porträtaufnahme, zwanzig mal zwölf Zentimeter. Wir Kinder und Mutter gingen recht unachtsam um mit dem Bild, als schiene es nicht von Bedeutung, obgleich es nur dieses eine von ihm gab.

      Die Fotografie zeigte, trotz Schrammen und Flecken, einen jungen Mann in Uniform mit einem fast mädchenhaften Gesicht. Die gerade Stirn und die hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Würdevolles. Große Augen, ernst und melancholisch blickend, ein fein geschnittener Mund und eine wohlgeformte, wenn auch etwas zu groß geratene Nase, rundeten das Bild ab. Es war eine Aufnahme von 1943, wie Mutters Handschrift auf der Rückseite verriet.

      Wenn ich allein war, nahm ich bisweilen das Foto an mich, hielt es neben mein Gesicht und schaute in den Spiegel. Nein, seine Ebenmäßigkeit besaß ich nicht, auch nicht seine Augen, und dennoch war da eine Ähnlichkeit, jedenfalls wesentlich deutlicher als zu meinen Geschwistern. Ein beängstigendes und gleichzeitig angenehmes Gefühl.

      Als Kind empfand ich das als verwirrend. Wusste ich doch, dass ich erst Monate nach seinem Tod geboren wurde.

      Von Mutter erfuhren wir Kinder kaum etwas über unseren Vater. Fragen wich sie aus, ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Schmerzhaftes. So unterließen wir es. Auf meine Anmerkung, wie schön Papa doch auf dem Foto aussähe, reagierte sie nicht, nahm mich in den Arm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

      So vermischten sich bei mir Wunschdenken und Realität und führten zu einer abstrakten, fast mystischen Vorstellung.

      Unser Vater erfuhr für viele Jahre Anonymität.

      Es war unsere Großmutter mütterlicherseits, die mir als Heranwachsende behutsam aus der Familiengeschichte erzählte und verschüttete Erinnerungen in mir weckte.

      Vater im Krieg. Seit Monaten kein Lebenszeichen von ihm. Unsere schwangere Mutter, mein acht Monate alter Bruder Christian, der im Kinderwagen lag, mein zweijähriger Bruder Udo, meine fünfjährige Schwester Renate, meine kranke Großmutter und eine schwerbehinderte Tante waren nach der Flucht aus Danzig im Bremer Umland angekommen. Sie besaßen nicht mehr als die Lumpen, die ihre Körper bedeckten. Die Bauersfrau, die sie aufnahm, handelte unwissend, als sie dem Baby Christian Vollmilch zu trinken gab. Nach den Entbehrungen auf der Flucht reagierte mein Bruder mit Brechdurchfall.

      Mutter hatte bislang verzweifelt versucht, ihn durch Stillen am Leben zu erhalten. Hunger, Leid und Ängste hatten diesen Lebensquell nun bei ihr versiegen lassen.

      In dem Dorf, in den Tiefen der Bremer Moore, war kein Arzt zu erreichen. Die kleine Flamme erlosch in den Armen unserer schwangeren Mutter. Seine verkrüppelten Füßchen hatten ihre embryonale Stellung beibehalten. Unser Bruder hätte wohl nie laufen können, vielleicht ist ihm viel Demütigendes erspart geblieben.

      Zwei Tage war Mutter mit einem geliehenen Fahrrad unterwegs, um einen Kindersarg zu bekommen. Sie wollte Christian nicht ohne schützende Hülle in die kalte, fremde Erde legen.

      Und sie kam mit einem Sarg zurück. In diesem begrub sie nicht nur unseren Bruder, sondern auch das Erlebte vom Vortag. Der Kindersarg unter ihrem Arm und ihr schwangerer Leib hatten den Mann, dem sie im Moor begegnete, nicht davon abgehalten, sie zu Boden zu werfen, um ihr Gewalt anzutun.

      Sie hatte nie darüber gesprochen.

      Mutter, meine beiden Geschwister, meine Großmutter und die unverheiratete Tante zog es in Richtung Hamburg. Mutter sah in dem kleinen Dorf im Bremer Umland keine Zukunft für ihre Kinder. In einem Ort in Schleswig Holstein, in dem ich später geboren wurde, bekamen sie Wohnraum in einer Holzbaracke.

      Ich kann mich daran erinnern, dass wir jeden Abend gemeinsam am Tisch und sonntags in der Kirche für unseren toten Bruder und für unseren Vater beteten. Ich spüre noch heute Mutters Hände, die dabei meine umschlossen. Wir beteten für die mir unbekannten Personen, die dadurch im Laufe der Zeit etwas vertrauter wurden. Damals haderte ich mit Gott, weil er die beiden zu sich genommen hatte, und meine Mutter dadurch zum Weinen brachte.

      Ich sehe sie in der Nachkriegszeit über ihren spärlich gefüllten Teller gebeugt und höre ihre Worte: »Guten Appetit, Kinder, die Schüssel darf geleert werden. Ich habe keinen Hunger.«

      Meine Schwester antwortete auf meine kindlichen Fragen nach unserem Vater lakonisch, sie fürchte, es hätte Papa und Christian nicht mehr gefallen in dieser Armut bei uns. Sie wären in eine bessere Welt gegangen.

      In eine bessere Welt? Meine Schwester um weitere Erklärungen zu bitten, traute ich mich nicht mehr.

      Ich kam in die Schule, lernte schnell und erhielt gute Noten. So erfuhr ich Bewunderung als Ausgleich für die Mängel, die meine Mitschülerinnen rasch herausgefunden hatten. Im Ort gab es keine weiteren Flüchtlinge, nur Bauern, die durch den Krieg keine Entbehrungen erfahren hatten.

      »Schau mal, wie dünn die ist, die haben nichts zu essen. Ihre Mutter muss den ganzen Tag arbeiten gehen. Ganz arm sind die«, hieß es, »die haben auch keinen Papa, sondern nur eine Oma zu Hause.«

      »Die haben ja nicht einmal einen Papa.« Das traf mich tief, war viel schmerzhafter als der Hunger, verletzte mich und hinterließ ein Gefühl, als wäre ich schuldig geworden.

      Worin lag denn meine Schuld? Was hatte ich, was hatten wir getan? Hatte der Vater uns verlassen, weil man es mit uns nicht aushalten konnte? Waren wir schlechte Menschen?

      Ich wagte es nicht, mich Mutter anzuvertrauen, spürte, wie sehr es auch sie verletzen würde.

      Nach dem Wechsel auf eine höhere Schule, gingen Freunde und Mitschüler wesentlich gelassener mit der Tatsache um, dass ich keinen Vater hatte und auch nur wenig über ihn wusste.

      Aber tief in mir blieben tausend Fragen, Ahnungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und ein Gefühl der Unvollkommenheit.

      Meine Tochter ging schon in die Schule, als unsere Mutter einmal ins Krankenhaus musste, um sich einer Operation zu unterziehen. Da bat mich meine Schwester zu einem Gespräch.

      Sie hatte auf Mutters Dachboden, bei der Suche nach ihren alten Schlittschuhen, einen Schuhkarton mit Briefen und einem Tagebuch gefunden. Briefe, auch von den Großeltern väterlicherseits, über die bei uns nie gesprochen wurde. Durch diese Briefe erfuhren wir Aufschlussreiches aus der Vergangenheit.

      Unser Vater hatte, wie seine Eltern, eine kommunistische Weltanschauung vertreten. Lange vor dem Krieg, schon als Schüler, hielt er leidenschaftliche politische Vorträge in seiner Heimatstadt. Die Gesinnung der Familie war bekannt.

      Unsere Großeltern hatten einmal für ein paar Tage Rosa Luxemburg versteckt. Der Opa kam dafür ins KZ. Die Oma hörte bis zu ihrem Tode die Stiefel der SS auf dem Pflaster vor ihrem Haus. Sie durchlebte es immer wieder, wie sie ihren Mann abholten,

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