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etwas labilen Psyche Ralphs nicht ausschließen. Diesem Restrisiko sei nur mit konsequenter Begleitung des Patienten durch Familie und wohlgesinnte Freunde zu begegnen; allerdings dürfe man ihm keine für ihn merkbaren Freiheitsbeschränkungen auferlegen, denn diese könnten in unerwünschte Trotzreaktionen entarten.

      Nach dem Ende der Untersuchung und wider die zwiespältige ärztliche Voraussage berieten Vater und Sohn ausführlich darüber. Natürlich ließ dabei Heinz Westphal jegliche Erwähnung des möglichen Rückfallrisikos beflissen aus. „Mein lieber Junge, du siehst einer wochenlangen, ziemlich schwierigen und äußerst unangenehmen – und sehr wahrscheinlich sogar schmerzhaften – Behandlungszeit entgegen. Lass dir aber sagen, es ist diesmal wirklich deine letzte Chance, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ich weiß, es ist schwierig für dich, mir ein Versprechen zu geben, dass du nach dieser Behandlung nie wieder irgendwelche Drogen, in welcher Form auch immer, zu dir nehmen wirst. Trotzdem bitte ich dich jetzt, dich dazu zu äußern. Es ist nicht nur der enorme finanzielle Aufwand, der damit einhergeht, es ist vor allem die Verzweiflung deiner Mutter und Schwester, die so sehr darunter leiden. Möchtest du mir irgendetwas dazu sagen?“

      Ralph blickte zunächst still auf den Fußboden. Dann, ohne den Kopf zu erheben, antwortete er: „Vater, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. In meinem Kopf schwirrt es, als ob tausend Wespen sich darin befänden. Ich habe einen Aal, der sich in meinem Bauch windet, und mir ist furchtbar schlecht, ich glaube, ich muss mich gleich wieder übergeben!“ Dann warf er abrupt die Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und rannte würgend ins Badezimmer, in das er sich sogleich einsperrte. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück, noch blasser als zuvor und mit stark geröteten Augen. Obwohl er sich sofort wieder hinlegte und ganz zudeckte, schüttelt es ihn heftig. „Entschuldige bitte, Vater!“, stieß er reumütig hervor.

      „Ist schon in Ordnung, Ralph. Soll ich den Arzt rufen?“

      „Nein, lass nur. Das geht schon so, seit ich hier bin. Man gibt mir regelmäßig Tabletten zur Beruhigung, aber diese Anfälle kommen alle paar Stunden wieder. Sie machen einen ganz kaputt. Für dich muss es unfassbar sein, aber Attacken wie diese wurden zunehmend schlimmer und deswegen brauchte ich jedes Mal eine größere Menge Kokain, um mich einigermaßen zu fühlen. Es ist nicht so, dass ich euch nicht liebe, dich, die Mami und Melanie. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich euch das angetan habe, aber ich kann doch nicht anders, es ist stärker als ich!“ Ralph brach in bitteren Tränen aus. Heinz Westphal beugte sich über das Bett, umarmte seinen Sohn, um ihn zu wärmen, und versuchte ihn mit sanften Worten zu beruhigen. Dann drückte er auf die Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Nachdem die Krankenschwester Ralph eine Beruhigungsspritze verabreicht hatte, murmelte er, bevor er in einen Schlummer versank: „Ich verspreche es dir, Vater, ich gebe mir alle Mühe.“

      Zweieinhalb Monate später holte Heinz Westphal seinen Sohn aus dem Sanatorium ab. Dr. Buri meinte, der junge Mann sei gründlich geheilt und wieder voll integrationsfähig, zumindest ließen alle seine abschließenden Tests ein solches Resultat erwarten. Als Vademekum gab er Ralph ermunternde Ratschläge mit auf dem Weg, vor allem aber die ernste Ermahnung, jeden Drogenkonsum und vor allem den Umgang mit der entsprechenden Szene unbedingt streng zu meiden. Ralph war offensichtlich ruhig und gelassen und verhielt sich während der ersten Wochen in Kiel absolut unauffällig. Es gelang Heinz Westphal dank seiner guten Beziehungen, ihn an der Fachhochschule Lübeck bereits für den nächsten Lehrgang unterzubringen. Gemeinsam besichtigten sie den Campus der Fachhochschule und waren von diesem Besuch sehr beeindruckt. Erleichtert vernahmen Ralphs Eltern danach seinen Wunsch, zunächst einmal zu Hause wohnen zu bleiben und tagtäglich nach Lübeck und zurück zu pendeln. So könne er auch die etwas mehr als eine Stunde dauernde Bahnfahrt zum Lernen nutzen.

      Zum Semesterbeginn machte sich also Ralph an den Wochentagen sehr früh am Morgen auf den Weg zum Bahnhof. Er hatte bei seiner ersten Fahrt sein Fahrrad mit nach Lübeck gebracht, das ihn jetzt am dortigen Bahnhof erwartete und mit dem er anschließend die Weiterfahrt zu seinem Studienplatz unternahm. Von seinen früher geleisteten – oder besser gesagt eher nicht geleisteten – vier Semestern in Konstanz waren ihm lediglich die beiden ersten vollständig testiert worden, sodass er an der hiesigen Fachhochschule den Neueinstieg in das dritte Semester mit gutem Gewissen angehen konnte. Zunächst lief auch alles anstandslos. Ralph hörte aufmerksam alle ihm vorgeschriebenen Vorlesungen und machte die wichtigsten Kurznotizen auf seinem Laptop. Später, meistens schon während der Bahnfahrt nach Kiel, arbeitete er diese in entsprechende Kollegdateien ein. Die ersten Prüfungen bestand er mit guten, manche sogar mit sehr guten Noten. Von seinen Dozenten und Kommilitonen wurde er durchaus geschätzt, auch wenn er dieses Mal, entgegen seiner früheren Konstanzepisode, auf jegliche Auftritte mit Gitarre und Gesang von vornherein verzichtete. Er mied jeden Kontakt zu seinen früheren Mitschülern aus der Gymnasialzeit und widmete sich konsequent seinem Studium. Seine wenigen freien Stunden verbrachte er meist zu Hause im Kreise der Familie. Gemeinsam mit der Mutter und gelegentlich auch mit Schwester Melanie besuchte er Theater- und Konzertveranstaltungen, manches Mal wurden es auch gemeinsame Kinoabende.

      Unauffällig beobachtete während der Bahnfahrten ein ungleiches Pärchen die Mitreisenden. Vor allem die zahlreichen Jugendlichen, Schüler und Studenten, die alltäglich auf der Strecke zwischen Kiel und Lübeck pendelten, waren das ausgemachte, jedoch verkappte Ziel ihrer besonderen Aufmerksamkeit. Habiba Massud war ein bildhübsches, noch nicht ganz achtzehnjähriges junges Mädchen, versteckte jedoch ihre besonders aparten orientalischen Züge unter einem derben Parka mit meist über den Kopf gestülpter Kapuze und kaschierte geschickt ihre betont weiblichen Rundungen mit einer für sie unvorteilhaften, massigen Kleidung. Sie verhielt sich sehr unauffällig und trug eine mittelgroße lederne Umhängetasche, sodass man durchaus meinen könnte, sie sei eine der pendelnden Studentinnen. Ihr Begleiter, ein Mittdreißiger, der stets bemüht war, so zu tun, als gehöre er nicht zu Habiba, war ein kahlköpfiger und magerer, in Lederjacke und Jeans gekleideter, äußerst unsympathisch wirkender Geselle namens Mathias Lohse, in seinen Kreisen als Matti bekannt. Mit wachem Auge und geübtem Blick taxierte er seine zukünftigen Opfer und sonderte jene heraus, von denen er sich am ehesten einen Erfolg versprach. Bedeutungsvolle Blicke wanderten dann zu seiner Komplizin, um Habiba zu signalisieren, wen er als ahnungsloses Opfer ausgewählt hatte. Sobald Habiba die Person ebenfalls anvisiert hatte und dann zu Matti zurückschaute, nickte dieser fast unmerklich und verschwand daraufhin verstohlen in dem nächsten Waggon. Während der folgenden Tage gingen die Jäger auf die Pirsch und beobachteten abwechselnd das Tagesverhalten der anvisierten, fast ausschließlich männlichen Personen. Derart erhielten sie Aufschluss über deren alltägliche Ziele und Gewohnheiten. Gelegentlich gesellte sich ein dunkelhäutiger Afrikaner zu den Spähern. Mustafa Mbili tarnte sich meist als Sonnenbrillen- und Billigschmuckverkäufer, womit er von seinem eigentlichen Vorhaben erfolgreich ablenkte.

      Eines Tages bemerkte Ralph das attraktive Mädchen, das ihm anscheinend zufällig, aber zunehmend öfter hier und dort begegnete, manches Mal auf seinem Radweg zum und zurück vom Unterricht, gelegentlich am Lübecker Bahnhof oder auch in der Mensa. Irgendwann begannen sie sich im Vorbeigehen zu grüßen. Eines Tages, beim Mittagessen, trat Habiba an Ralphs Tisch und fragte mit einem verführerischen Lächeln: „Ist hier noch frei?“ Sie kamen ins Gespräch, trafen sich bald häufiger, gingen zusammen aus, wurden vertrauter im Umgang miteinander. Und schließlich verführte Habiba den ahnungslosen Ralph zunächst sexuell, aber kurz darauf auch zum erneuten Kokainkonsum.

       ***

      Vollkommen entnervt und geschockt, weil der Bruder weder auf ihre verzweifelten Rufe noch auf das laute Trommeln an der Toilettentür reagiert, versucht Melanie zunächst, den Hausmeister herbeizurufen. Dieser ist aber offensichtlich nicht in seiner Wohnung. Dann wählt sie hektisch die 112 und alarmiert die Feuerwehr.

      „Hier Melanie Westphal. Ich benötige dringend Hilfe. Mein Bruder hat sich im Büro in der Toilette eingeschlossen und antwortet nicht. Ich habe Angst, dass er sich etwas angetan hat. Bitte kommen Sie sofort, bitte, bitte!“ Auf Rückfrage der Stimme am Nottelefon nennt sie die Anschrift. Keine fünf Minuten später kündigt sich mit lautem Martinshorn der Rettungsdienst an. Melanie blickt aus dem Fenster und beobachtet mit Erleichterung die Feuerwehrleute und das Notarztteam, die jetzt zum Gebäudeeingang eilen. Als sie ihnen die Tür zum Büroraum öffnet, kommen sie

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