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Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel
Читать онлайн.Название Verschwiegene Wasser
Год выпуска 0
isbn 9783955522261
Автор произведения Stephan Hähnel
Жанр Зарубежные детективы
Издательство Автор
Morgenstern brauchte einen Augenblick, verstand dann aber. »Kennen Sie Sinas Kunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht ihre Namen.«
»Bekam Sina oft Besuch?«
»Nein, niemals.«
»Freunde? Kollegen? Ehemalige Kommilitonen?«
Wieder verneinte sie.
»Können Sie mir sagen, was Sina sonst so in ihrer Freizeit gemacht hat?«
»Freizeit war ein Fremdwort für sie. Sie verbrachte jede freie Minute in ihrer Firma. In der Nacht beglückte sie Kunden. Ein schwerer Fall von Workaholismus. Dienstags ging sie regelmäßig zur Therapie.«
»Sie hatte eine Firma?«
»Chromosoph. Ein Start-up. Hat sie gemeinsam mit zwei Studienfreunden gegründet.«
Morgenstern überlegte, welche Frage er stellen wollte, bekam aber auch diesmal die Antwort, bevor er sich entschieden hatte.
»Ich habe keine Ahnung, was Chromosoph macht. Sie tat immer sehr geheimnisvoll. Einmal erwähnte sie, dass eine Menge Geld mit ihrer Forschung zu verdienen sei.«
»Wissen Sie, was für eine Therapie Sina gemacht hat?«
»Wahrscheinlich so eine ›Meine-Kindheit-war-scheiße‹-Therapie.« Augenblicklich bereute Constanze die Formulierung und machte eine entschuldigende Geste. »Wem es hilft!«
»Haben Sie die Adresse von dem Therapeuten?«
Sie stand auf, nahm eine Visitenkarte von einem Wandbrett und reichte sie Morgenstern über den Tisch. »Doktor Bedürftiger. Kein Witz! Der Kerl heißt wirklich so.«
»Können Sie mir sagen, warum Sina glaubte, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen?«
»Ich weiß nicht viel über sie. Geheimnisse waren ihr Steckenpferd.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Morgenstern das Gefühl, dass er nicht die volle Wahrheit erfuhr. »Ich möchte gern Sinas Zimmer sehen.«
° ° °
Sich fremde Wohnungen anzuschauen empfand Morgenstern immer als eine Verletzung der Privatsphäre. Die unbekannten vier Wände verrieten nicht nur etwas über den Geschmack und den Lebensstil der Person, die dort lebte, sondern gaben auch Details preis, die Dritten verborgen bleiben sollten. Sofort fiel Morgenstern auf, dass Sinas Zimmer mustergültig aufgeräumt war. Das Bett war gemacht, nichts lag herum, der Inhalt der Schränke war nach praktischen Erwägungen sortiert. Dann bemerkte er, dass sie auf jegliche Verschönerung verzichtet hatte. Keine Bilder, Plakate oder Fotos. Auch der Schreibtisch verriet nicht, dass an ihm gearbeitet wurde. Ein paar Bücher, allesamt Fachpublikationen, standen, der Größe nach aufgereiht, in einem schlichten Regal. Das Zimmer wirkte nicht wie jenes einer jungen Frau aus gutsituiertem Hause. Der einzige Unterschied zu dem Zuhause eines nach eremitischen Grundsätzen lebenden Menschen schien der Computer zu sein. Auch wenn Morgenstern kein Spezialist war, konnte er doch erkennen, dass es sich um ein hochwertiges Gerät handelte.
Normalerweise stellte sich bei ihm ein Gefühl für die Person ein, deren Lebensmittelpunkt er in Augenschein nahm. Diesmal schwieg sein Inneres. Vielleicht war es die Enttäuschung darüber oder einfach nur jahrelange Routine, die ihn veranlasste, die Tastatur zur Seite zu schieben. Darunter lag ein Briefumschlag. Adressiert war er nicht, er schien aber schon eine Weile in Benutzung zu sein. Mit dem Taschentuch, das Constanze nicht hatte benutzen wollen, zog er den Umschlag hervor. Der war unverschlossen und enthielt Polaroidaufnahmen. Morgenstern nahm sie vorsichtig heraus und musste schlucken. Sie zeigten ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, und einen Mann beim Sex. Das Gesicht des Mädchens war deutlich erkennbar, das des Mannes war mit einem Retuschierpinsel unkenntlich gemacht worden. Bei dem Mädchen handelte es sich eindeutig nicht um Sina. Die Physiognomie war eine andere. Behutsam steckte Morgenstern die Fotos ein. Es kam ihm so vor, als seien die Polaroidaufnahmen so platziert worden, dass sie gefunden werden sollten.
Die übrigen Räume der Wohnung erschienen ihm uninteressant. Ein weiteres Zimmer enthielt nur einen leeren Wäscheständer und ein paar zusammengefaltete Umzugskisten. Auch das Bad wirkte spartanisch, mit billigen Schränken ausgestattet und mit einer schmalen Dusche versehen.
° ° °
Wieder im Büro, fasste Morgenstern alle Erkenntnisse in einer Akte zusammen und notierte Fragen, denen nachzugehen war. Gegen achtzehn Uhr beschloss er, Feierabend zu machen. Anna Balin wartete auf ihn.
Er hatte sich angewöhnt, mit der S-Bahn zu fahren, wenn er Anna besuchte. Der anschließende Spaziergang vom Bahnhof zu ihrer Wohnung half ihm nicht nur beim Kampf gegen die Pfunde, sondern auch dabei, den stressigen Tag zu vergessen.
Nachdem er aus der Bahn gestiegen war, erwarb er einen Strauß Gladiolen, von denen er wusste, dass es ihre Lieblingsblumen waren. Das Leben auf dem Savignyplatz pulsierte. Alle schienen die warmen Tage genießen zu wollen. Touristen ließen das tagsüber Erlebte vor den Cafés und Restaurants Revue passieren und planten die Höhepunkte für den kommenden Tag. Ein paar junge Roma standen vor den Tischen und spielten mechanisch eine Melodie. Zwischendurch rief einer von ihnen »Freude« und strahlte jeden auffordernd an, dessen Blick in seine Richtung ging. Wenige lächelten zurück. Die meisten ignorierten ihn. Einige schauten demonstrativ weg. Morgenstern empfand die Musik als nervig. Er gab aus Prinzip nie Geld. Anna dagegen suchte regelmäßig einige Cent zusammen. Als sie einmal keine Münzen in ihrer Tasche gefunden hatte und er mosernd seine Brieftasche plündern musste, hatte sie gefragt, ob es ihm lieber wäre, wenn er beruflich mit diesen Jungs zu tun hätte. Er hatte nicht darauf geantwortet.
Schon im Hausflur roch Morgenstern, dass Anna etwas Neues versucht hatte. Ihre Begeisterung für das Ausprobieren von exotischen Rezepten war dafür mitverantwortlich, dass er fünf Kilo auf der Habenseite verbuchen musste. Eine Tatsache, die ihm Sorgen bereitete. Anna war eine brillante Köchin und er, zugegebenermaßen, ein williges Opfer kulinarischer Experimentierfreude.
Anna öffnete die Tür und begrüßte ihn in einem farbenfrohen Kaftan. Erfreut nahm sie ihm die Blumen ab. Ihre Umarmung war leicht, und dennoch spürte er die Wärme und die Rundungen ihres Körpers, die von dem weichen Stoff verführerisch umflossen wurden. Sie küsste ihn zur Begrüßung flüchtig auf den Mund und zog ihn aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Tisch war exotisch gedeckt und die Dekoration bis ins kleinste Detail auf das Essen abgestimmt.
»Heute gibt es afrikanische Pasteten«, verkündete sie und machte eine einladende Geste, die seinen Blick auf schwarze Steingutteller, Holzlöffel im Giraffendesign, machetenähnliche Messer und Serviettenhalter aus Ebenholz lenkte.
Ob die schon immer Bestandteil ihres Haushalts waren, konnte Morgenstern nicht mit Bestimmtheit sagen. Er bemühte sich aber, seine fehlende Begeisterung durch ein Interesse vortäuschendes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihm nur unzureichend, schon allein deshalb, weil er an Insekten, Termiteneier und fette Maden denken musste, die, zu einem Brei verarbeitet, serviert wurden. Er hatte davon in einem Buch über die Essgewohnheiten eines Volkes am Victoriasee gelesen. Der Autor berichtete, wie sämtliche Dorfbewohner, mit Töpfen und Netzen bewaffnet, Moskitoschwärme jagten, um aus deren Masse Mückenburger zu braten.
Morgenstern zog das Jackett aus, reichte es Anna, schlüpfte in die Schlappen, die neben dem Tisch standen, und setzte sich auf seinen Platz. Es tat gut, hier zu sein. Dennoch fühlte er sich von so viel Fürsorglichkeit überfordert, wie des Öfteren in letzter Zeit.
»Afrikanische Pasteten? Aha, klingt fantastisch!«, bemerkte er, nahm den Ebenholzlöwen hoch, in dessen Rücken eine aufwendig gefaltete Serviette steckte, und betrachtete ihn misstrauisch. Dann stellte er ihn vorsichtig zurück. »Das schmeckt bestimmt interessant«, dachte er laut und bereute im selben Moment seine Wortwahl.
Annas Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Alle Zutaten sind europäisch!«, erklärte sie verärgert und verschwand mit energischen Schritten in der Küche.
Morgenstern