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für die Dauer ihres endlosen Scheidungsprozesses einen Deckel auf seinen Gefühlen gehalten. Hatte sie einfach blockiert, die Zähne zusammengebissen, seine Lippen verschlossen. Wenn sie wusste, dass er am Boden zerstört war deswegen, dann nicht, weil er vor ihr zusammengebrochen war. Wenn sie von dem Zorn wusste, der in seinem Inneren brodelte, dann nicht, weil er ihr gegenüber gewütet hätte.

      Aber die Gefühle, die jetzt in ihm tobten, bettelten darum, freigelassen zu werden. Und seine Füße, die jetzt zielstrebig über den Gehweg schritten, schienen dieser Macht gegenüber hilflos. Diesmal würde sie ganz genau wissen, wie er sich fühlte.

      KAPITEL 2

      Josephine Mitchell zog einen Kamm durch Abel Cranes frischgeschnittenes Haar. Ihre geschickten Finger zupften hier und da an den groben Strähnen, überdeckten einen Wirbel, zähmten eine Welle. Abel war in seinen Sechzigern und hatte einen dicken Schopf grauen Haars, das so schnell wuchs wie ein Rasen im Juni.

      Die Kundenschar am Samstagmorgen füllte Josephines Herrensalon mit den vertrauten Klängen von Plaudereien, dem Summen eines Rasierapparats und dem Plätschern des Wassers in den Waschbecken. Sie roch das herbe Aroma der Rasiercreme und hörte das Schaben einer Rasierklinge, die ihre Freundin und Mitarbeiterin Callie gekonnt über die Wange eines Kunden zog.

      Mit einem Schwung hob Josephine den Umhang von Abels Schultern. „Ta-da! Stattlich wie immer, Mr. Crane.“

      „Vielen Dank, meine Liebe.“

      Abel wohnte am Fuß der Hügel in einem Trailer, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vor zwei Jahren war er nach einer Rückenverletzung in der Kiesgrube gezwungen gewesen, einen Behindertenstatus zu beantragen. Seine Frau kümmerte sich zu Hause um ihre erwachsene Tochter, die unter schwerer zerebraler Kinderlähmung litt und an den Rollstuhl gefesselt war.

      Während Josephine ihre Werkzeuge verstaute, klingelte hinter der Trennwand die Türglocke. Ihre vier Friseurinnen waren mit ihren Kunden beschäftigt.

      „Bin gleich da!“, rief sie.

      Auf seinem Weg zum Empfang fischte Abel sein Portemonnaie aus der Hosentasche, eine Routine so vertraut wie der Geruch des Shampoos.

      Josephine unterbrach ihn. „Jetzt aber, mein Bester, Sie wissen doch, dass Ihr Geld bei uns nichts wert ist. Kaufen Sie lieber Ihrer Frau ein Stück Kuchen, und richten Sie ihr einen lieben Gruß von mir aus.“

      Abels runde Wangen röteten sich. „Oh, aber das ist doch nicht nötig. Uns geht es wohl was besser, jetzt, wo unser Junge auf eigenen Beinen steht.“

      Sie gab ihm einen sanften Klaps auf den Arm. „Ach was, nun aber raus hier, Abel Crane. Wir sehen uns dann nächsten Monat. Und sagen Sie Lizzie, sie soll mal hereinschauen.“

      „Mache ich“, sagte er und verließ den Laden. „Vielen herzlichen Dank, Josephine.“

      Sie drehte sich um und suchte nach dem Neuankömmling. „Geben Sie mir nur eben ein Momentchen zum Aufkehren und …“

      Ihr Blick fiel auf den wartenden Kunden. Aber es war nicht nur irgendein Kunde. Es war Noah. Aufrecht und selbstbewusst stand er in der Ecke ihres kleinen Empfangsbereichs und brachte etwas in ihr zum Schmerzen. So war es eben mit Noah. Er kam durch ihre Tür, und die vergangenen anderthalb Jahre schwebten einfach wie ein Lufthauch davon.

      „Noah.“ Sein Name entfuhr ihr mit einem Atemzug.

      Sein Haar war vom Wind zerzaust, sein Gesicht voller harter Kanten und einem rauen Dreitagebart. In seinen bernsteinfarbenen Augen schien ein Feuer zu lodern. „Wir müssen reden.“

      Ihr Mund öffnete sich, aber in ihrem Gehirn war ein einziges Kuddelmuddel. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, warum er hier sein könnte, warum er auf sie wütend sein sollte. Seit ihrer Aussage hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

      Sie verschränkte die Arme, eine bestenfalls schwache Barriere, und klebte sich ein Lächeln auf die Lippen. „In Ordnung. Was ist los?“

      Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Was los ist? Ich werde dir sagen, was los ist, Josephine.“

      Das tat weh. Sie erwartete ja nicht gerade, diese tiefe, raue Stimme „mein Mädchen“ sagen zu hören, aber Josephine? Er hatte sie von Anfang an Josie genannt.

      Er beugte sich näher zu ihr, und der volle Effekt seines männlichen Duftes machte sie benommen. „Ich muss deine Ausfertigung unseres Scheidungsurteils sehen.“

      Sie blinzelte. Ihr Blick huschte durch den Empfangsbereich. Sie war dankbar, dass er leer war. Trotzdem, die Trennwand war nicht aus Stahl. Eine Hitzewelle stieg über den Nacken in ihre Wangen. „Bitte sprich etwas leiser.“

      „Das Scheidungsurteil, Josephine. Geh es holen.“

      „Schön. Es ist oben. Ich hole es eben.“ Sie hasste es, wie ihre Stimme zitterte. Sie drehte sich um und eilte in den hinteren Bereich ihres Ladens. Das Lächeln, das auf ihren Lippen fixiert war, geriet ins Wanken, als sie im Spiegel einen Blick auf Noah erhaschte, der ihr folgte.

      Na, das würde dann wohl spätestens zur Mittagszeit in der Stadt die Runde gemacht haben. Josephine DuPree Mitchell empfing bei helllichtem Tag ihren Ex-Ehemann in ihrer Wohnung.

      Sie schlüpfte durch die Hintertür in den kurzen Flur, der zur Treppe zu ihrer Wohnung führte. Als sie den Treppenabsatz erreichte, sah sie Noah hinter sich am Fuß der Treppe stehen, die muskulösen Arme vor seiner Brust verschränkt.

      „Kommst du nicht?“

      Er durchbohrte sie mit einem stürmischen Blick voller Misstrauen. „Ich glaube, ich werde einfach hierbleiben.“

      Die Hitze in ihren Wangen verstärkte sich noch, während sie die restlichen Stufen mit Knien so wackelig wie ein dreibeiniger Tisch hinaufstieg, weil ihr Gehirn immer noch versuchte, diese letzte unwirkliche Minute zu verarbeiten. Noah hier. In ihrem Laden.

      Sie versuchte, den steinernen Ausdruck in seinem Gesicht zu vergessen. So anders, als er sie früher immer angeschaut hatte, als seine Löwenaugen voller Verehrung gewesen waren und seine Lippen sich zufrieden gekräuselt hatten, wenn sie völlig tiefenentspannt in ihrem Bett gelegen hatten. In diesen satten, wohligen Minuten, bevor der Schlaf sie mit sich trug, war es immer am einfachsten gewesen, die Angst wegzuschieben.

      Na und? Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben, Josephine. Die altvertrauten Schuldgefühle bohrten sich hart in ihre Brust, und sie erlaubte sich einen langen, maßlosen Moment lang, die Wucht des Ganzen zu spüren.

      Darüber konnte sich jetzt nicht nachdenken. Konzentration. Wo hatte sie diese Papiere hingelegt?

      Ihre Augen huschten durch ihre unordentliche Wohnung. Sie hatte keinen richtigen Aktenschrank; alles, was irgendwie wichtig war, landete auf ihrem Schreibtisch. Die Rechnungen ließ sie links liegen und tauchte direkt zum Grund des Bergs. Nicht da. Sie suchte weiter.

      Ihre Finger zitterten, sie war unbeholfen. Ein Stapel Papiere segelte aufs Parkett, und sie bückte sich, um sie aufzusammeln. Es waren vor allem Coupons und Werbung; sie war noch nicht dazu gekommen, sich das alles anzuschauen. Sie schwankte, als sie sich aufrichtete. Wo war es nur?

      Sie ging zu den Schubladen über und wühlte darin herum. Himmel, welch ein Durcheinander. Sie musste wirklich Ordnung schaffen. Man konnte schließlich nie wissen, wann der Exmann mit verschränkten Armen übelgelaunt am Fuß der Treppe warten würde.

      Die Zeit lief, und seine Laune – sie hatte da so ein Gefühl – wurde mit jeder Sekunde schlechter. Sie fand das Urteil auf dem Grund der letzten Schublade und zog es mit einem von Herzen kommenden Seufzer hervor.

      Sie nahm sich noch einen Moment, um kurz durchzuatmen, und ihre Augen blieben an dem Spiegel neben der Eingangstür hängen. Das Adrenalin, das sie durchflutete, hatte ihre Wangen gerötet und Schweißperlen auf ihre Stirn gezaubert. Sie tupfte sich die Stirn mit einem Papiertuch ab und widerstand dem Impuls, ihren Lippenstift aufzufrischen und sich durch die Haare zu fahren.

      Komisch,

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