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muss?

      An dem Tag, an dem wir die lila Blumen betrachtet haben, wolltest du unbedingt mit mir boxen. Weißt du noch? Im Sandkasten, in dem noch einige vergessene Förmchen lagen, wie Korallen am Meeresgrund. Wie komme ich nur auf ein so romantisches Bild? Eigentlich war es ein dunkelgraues, vom Regen stumpf gewordenes Eckchen auf dem Spielplatz.

      „Weißt du, wovor ich Angst habe? Dass du eines Tages sagst, ich hätte nicht um dich gekämpft.“

      „Das hier ist unser Ring. Lass uns kämpfen!“, hast du gesagt, dich hingestellt und die kleinen Fäuste weit geschwungen, mit einem eisernen Willen und doch so wenig Kraft. Wenn ich dich jetzt vor mir sehe, denke ich, dass ich genauso bin: Ich will dich endlich wiedersehen, aber ich habe die Kraft nicht mehr. Nein, so darf ich es nicht sagen. Das klingt irgendwie fremd. Mir fehlen wohl die Worte dafür. Wie soll ich es dir nur erklären? Weißt du, wovor ich Angst habe? Dass du eines Tages sagst, ich hätte nicht um dich gekämpft. Wie sollte ich denn? Kann ich gegen deinen erklärten Willen kämpfen? Ich bin so ratlos.

      Ich habe alle Energie gebraucht, um die Wut, den Hass und die Verletzung in mir unter Kontrolle zu bekommen. Das ist, als ob man einen übervollen Schrank zumachen will, aus dem andauernd etwas anderes hervorquillt. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich kann auch nicht mehr. Deine Mutter und ich, wir haben zehn Jahre lang gekämpft. Erst nebeneinander und dann gegeneinander, leider nie miteinander. Unsere Ehe war in all den Jahren ein „Ich“ und ein „Du“. Ein wirkliches „Wir“ ist daraus nie geworden. Das Seltsamste daran ist: Seit du da bist, verstehe ich, wie es eigentlich hätte sein müssen. Denn jetzt geht es mir gut, wenn es dir gut geht.

      Die Freunde, zu denen deine Mutter den Kontakt nicht abgebrochen hat, sagen mir, dass du das Leben genießt, dass du dich prächtig entwickelst und ein sehr aufgeweckter Junge bist. Sie denken, dass sie mir damit eine Freude machen, aber sie quälen mich. Kann es dir denn gut gehen, wenn ich nicht an deiner Seite bin? Ich erschrecke, wenn ich so etwas denke, weil ich spüre, dass in diesem ganzen Streit nicht nur das Sehen oder Nichtmehrsehen eine Rolle spielt. Es geht auch um mich. Und das bekomme ich nicht so schnell in den Griff.

      „Ich habe mir vorgestellt, wie du von Polizisten aus dem Haus deiner Mutter geführt wirst. Weinend, weil du nicht begreifen kannst, was mit dir passiert.“

      Eines habe ich noch keinem erzählt, aber dir möchte ich es gerne sagen: Ich bin inzwischen dankbar, dass deine Mutter gegangen ist. Ich fühle mich elend und traurig bei diesem Gedanken, aber er ist trotzdem wahr. Mama hat nicht nur sich, sondern auch mich aus einem sich immer mehr verfestigenden Lügengefängnis befreit. Obwohl! So kann ich das nicht stehen lassen. Dass sie die Mauern gesprengt hat, dafür bin ich ihr dankbar, dass sie nicht versucht hat, es mit mir gemeinsam zu tun, nehme ich ihr wohl mein ganzes Leben lang übel.

      Ich war bei einem Anwalt, einem großen Mann, der ein bisschen wie der Räuber Hotzenplotz aussieht. Der sollte mich beraten. Er hat sich in seinem weichen Ledersessel vor einem modernen Kunstdruck lässig nach hinten gelehnt und mir aufmunternd zugenickt: „Machen Sie sich mal keine Sorgen. Das kriegen wir hin. Überhaupt kein Problem. Sie haben ja schließlich alle Rechte.“

      Zuerst habe ich mich gefreut, aber dann fing er an, mir die ganze Palette der Möglichkeiten aufzuzeigen: „Sehen Sie: Wenn Ihre Ex-Frau sich nach dem Urteil weiterhin weigert, Ihnen den Umgang zu ermöglichen, dann wird der Junge eben vom Jugendamt oder von der Polizei abgeholt. Zum Glück sind die Richter in unserer Stadt sehr väterfreundlich. Wie gesagt: Das kriegen wir hin.“ Und dann wollte er wohl, dass ich ihm sage, wie froh ich über seine Ermutigungen bin. Aber ich war es nicht.

      Ich habe mir vorgestellt, wie du von Polizisten aus dem Haus deiner Mutter geführt wirst. Weinend, weil du nicht begreifen kannst, was mit dir passiert. Eine merkwürdige Scheu ist über mich gekommen, die ich von mir gar nicht kenne. In meiner Fantasie hatte ich dich längst ein Dutzend Mal aus dem Kindergarten entführt und mit auf eine lange Reise nach Indien genommen, wo uns keiner findet. Oder nach Taka-Tuka-Land. Manchmal komme ich vor lauter Verzweiflung auf so seltsame Gedanken. Dabei bin ich sicher, dass es dir in Indien gefallen würde. Da leben die Elefanten mit den kleinen Ohren. Hey, du bist doch einmal unglaublich erschrocken, als dir im Zoo einer von diesen Kerlen eine Karotte mit dem Rüssel aus der Hand zog. Darüber haben wir noch ganz oft gesprochen.

      Wenn du mir wieder mal so sehr fehlst, dass ich nicht schlafen kann, dann schmiede ich sogar noch finsterere Pläne. Dann lasse ich deine Mutter von der Mafia entführen und in ein sizilianisches Verließ werfen, aus dem sie erst wieder herausdarf, wenn sie unterschreibt, dass ich dich regelmäßig sehen darf. Und der Obergangster macht ihr sehr deutlich, dass schreckliche Dinge passieren, wenn sie sich nicht daran hält. Und diese Drohung sagt er mit so finsterer Miene, dass sie gehorcht.

      „Ein befreundeter Psychoanalytiker sagte mir, ich müsse lernen loszulassen. So ein Idiot!“

      Entschuldige, ich schweife ab. Wahrscheinlich ist daran meine Sehnsucht nach dir schuld. Viele meiner Freunde haben mir geraten, dem Vorschlag von Räuber Hotzenplotz zu folgen und um dich zu kämpfen. Sie verstehen nicht, dass ich nicht kann. Ein paar Mal hatte ich schon den Telefonhörer in der Hand, um ihn anzurufen. Aber dann sehe ich immerzu das Polizeiauto vor mir – und ahne, dass das keine Lösung sein kann. Das mit dem Kämpfen muss irgendwann einmal vorbei sein. Dir zuliebe, mir zuliebe, aber auch deiner Mutter zuliebe, der ich bei aller Verletztheit nichts Böses wünsche. Und doch möchte ich schreien, wenn ich begreife, dass ich an deinem Leben keinen Anteil mehr haben soll. Ein befreundeter Psychoanalytiker sagte mir, ich müsse lernen loszulassen. So ein Idiot! Wahrscheinlich hat er Recht, aber wie soll das denn gehen? Was wird aus der Zeit, die wir zusammen hatten?

      Neulich habe ich beim Aufräumen hinter der Anrichte die lila Blüte gefunden, ja genau, die Blüte aus deinem Knopfloch. Sie ist einfach getrocknet und sieht noch fast genauso schön aus wie damals. Sie ist ein bisschen älter geworden, aber die Falten stehen ihr gut. Ich nehme an, dass du sie verloren hast, als du im Flur dein buntes Hemd möglichst schnell ausziehen wolltest, um noch das Sandmännchen zu sehen, bevor ich dich zurückbringe. Vielleicht ist sie auch erst später dorthin gekommen. Ich weiß es nicht. Ich habe sie in einen alten Bilderrahmen unter Glas gesteckt. Zu dem Bild, dass dich auf dem Klettergerüst zeigt. Das Bild, das ich im Sommer im Schwimmbad gemacht habe. Du hängst darauf kopfüber nach unten und winkst.

      Manchmal stelle ich das Bild weg, weil ich den Anblick nicht ertrage. Es hat so viel von dir – und ich habe so wenig. Außerdem war deine Lust am Klettern einmal Anlass für einen Riesenstreit zwischen deiner Mutter und mir. Sie wollte dich immer vor allem bewahren. Ich wollte, dass du dich Herausforderungen stellst. Du warst von Anfang an ein Klettermax. Sobald du laufen konntest. Und wie oft hatte auch ich Angst um dich, wenn du in schwindelerregenden Höhen herumgeturnt bist.

      Erstaunlich: Du wolltest immer ganz nach oben. Das kenne ich. Nur habe ich dabei die Bodenhaftung verloren. Nein, ich habe nicht zu viel gearbeitet, wie deine Mutter gerne behauptet. Ich war mit meinen Gedanken zu oft nicht bei ihr. Diesen Vorwurf hätte sie mir zu Recht machen können. Aber sie redet ja nicht mehr mit mir.

      Erst nach ihrem Anruf ist mir klar geworden, dass ihr irgendjemand gesagt haben muss, dass es seit kurzem eine neue Frau in meinem Leben gibt. Oder hast du deiner Mutter davon erzählt? Wie dem auch sei: Offensichtlich hat diese Information sie so sehr getroffen, dass sie meinte, sofort zurückschlagen zu müssen. Wie absurd. Ich habe dir gesagt, dass ich weiß, wie sehr ein Kampf um dich auch ein Kampf um meine eigenen Fragen und Zweifel wäre. Jetzt verstehst du sicher, dass es bei deiner Mutter genauso ist. Obwohl sie mich verlassen hat, gibt sie mir die Schuld an allem und versucht, sich wieder zu finden. Würde ich um dich kämpfen, dann ginge es nur ganz am Rand um dich. Vor allem fände eine erneute Schlacht zwischen deiner Mutter und mir statt. Und das hast du nicht verdient. Wenn ich, um dich zu sehen, deine Mutter besiegen muss, dann will ich das nicht. Schließlich lebst du bei ihr. Ich kann nur beten, dass wir beide, deine Mutter und ich, irgendwann so weit sind, dass wir tatsächlich über dich reden können.

      „Eines Tages möchte ich dich wiedersehen, eines Tages werde ich dich wiedersehen. Dieses Leben ohne dich, das kann nicht sein.“

      Kleiner Mann! Ich habe nur ein Stück deines Lebens mitbekommen. Das verblüffende Aufwachen eines neuen

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