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Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky
Читать онлайн.Название Kempinski erobert Berlin
Год выпуска 0
isbn 9783955522483
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Автор
In diesem Sommer hatte er sich vorgenommen, die Ortschaften an der Grenze zu Kongresspolen abzuklappern. Von Wreschen hatte ihn der Weg über Miloslaw, Komorze, Groß Dubin, Rzegobin, Broniszewice und Pleschen nach Tursko geführt, wo er sich dann etwas westwärts gewandt hatte, weil er sich von Ostrowo, Schildberg und Kempen mehr versprach – in jeder Hinsicht. Krotoschin und Adelnau lagen ihm zu weit ab vom Schuss, aber Raschkow war es allemal wert, besucht zu werden.
Auch heute stand er dort auf dem Marktplatz und wartete. Viele Stunden lang.
Der Elfjährige, der jetzt an seinem Stand auftauchte, war ganz nach seinem Geschmack. Fröhliche Menschen schmeckten immer besser als solche, die ernst, in sich gekehrt und verbittert waren.
»Na, Georg, suchst du nach einem Messer, mit dem du dir Pfeifen aus Kälberrohr schnitzen kannst?«
»Ich heiße nicht Georg«, kam es zurück.
»Wie, du bist nicht der Georg Gerlach, der Sohn vom Milch- und Butterhändler?« Den Namen Gerlach hatte Krojanke vorhin auf einem Schild gelesen, und es war ein alter Trick, die Jungen mit einem falschen, aber durchaus möglichen Namen anzusprechen.
»Nein, ich bin der Berthold vom Weinhändler Kempinski.«
»Ach so, na, dann kannst du deinen Vater ja mal fragen, ob er Korkenzieher braucht. Ich habe da ein neues Patent. Das will ich dir gern mal zeigen.«
Berthold Kempinski saß im Ratskeller von Adelnau und las staunend die Speisekarte. Er hatte nie groß darüber nachgedacht, aber bis jetzt war es für ihn selbstverständlich gewesen, dass man in einem Gasthaus genau wie zu Hause das vorgesetzt bekam, was die Frau des Wirts gerade gekocht hatte. Unvorstellbar, dass man in einer Küche zwanzig und mehr Gerichte gleichzeitig zubereiten konnte, und noch mehr verblüffte ihn, dass die sechs Männer am Nebentisch genau zur selben Zeit ihre sechs verschiedenen Speisen serviert bekamen. Das musste eine wunderbare Maschinerie sein, die das hervorbrachte.
»Na, kannst du dich nicht entscheiden?«, fragte der Vater. »Dann bestell dir doch einfach Schlesisches Himmelreich.«
Raphael Kempinski nahm immer abwechselnd eines seiner vielen Kinder mit nach Adelnau, wenn er in der Kreisstadt an der Bartsch zu tun hatte.
Berthold überlegte einen Augenblick. »Schlesisches Himmelreich? Nein, ich möchte lieber etwas haben, was bei Mutter nie auf den Tisch kommt.«
Sein Vater lachte. »Na, mal sehen, ob sie hier Kaviar und Austern haben.«
»Der Ober will sowieso nichts von uns wissen.« Berthold war aufgefallen, dass der hagere Mann seinen Vater und ihn geflissentlich übersah.
Raphael Kempinski nahm es gelassen. »Erst kommen die Leute von hier, dann wir. Und am Ende der Welt geht es nun mal anders zu als in Berlin.«
Berthold fragte sich immer wieder, warum er ausgerechnet hier zur Welt gekommen war, im hintersten Winkel der preußischen Provinz Posen, warum nicht wenigstens in Breslau. Am besten wäre natürlich Berlin gewesen.
Als sie eine weitere Viertelstunde gewartet hatten, fragte Raphael Kempinski den Ober, ob er nun endlich auch ihre Bestellung entgegennehmen würde.
»Nein. Tut mir leid, ich habe meine Weisungen.«
Raphael Kempinski nahm es gelassen. »Aber herzlichen Dank dafür, dass wir wenigstens hier sitzen und uns ausruhen durften.« Er legte eine Münze auf den Tisch. »Für Sie und die freundliche Bedienung.«
Draußen auf dem Marktplatz fragte Berthold seinen Vater, ob sie nichts zu essen und zu trinken bekommen hätten, weil sie Juden seien.
»Ja und nein«, lautete die Antwort. »Manche Menschen können nur leben, wenn sie andere hassen, und mich hasst nun mal unser Fleischer in Raschkow, der Schmeisel, und der Ratskeller hier wird von seinem Bruder bewirtschaftet. Alles nur, weil er bei mir mal einen Wein gekauft hat, der wie Essig geschmeckt hat. Und nach Erde und Schimmel, zugegeben. Es war ein unglücklicher Umstand, und ich habe mich x-mal entschuldigt dafür, aber er hat gemeint, ich hätte ihn vergiften wollen – weil wir Juden ja nichts anderes im Sinn haben, als Christen zu vergiften.«
»Wenn ich groß bin, mache ich ein eigenes Restaurant auf«, sagte Berthold Kempinski. »Und wenn du dann kommst, brauchst du nicht zu warten.«
Sein Vater lachte. »Wer nichts wird, wird Wirt. Nein, mein Junge, du wirst was Vernünftiges, du kommst mal nach Ostrowo aufs Gymnasium und wirst … sagen wir: Arzt. Ja, jetzt habe ich es: Arzt.« Dass der Junge beim Anblick des grausam zugerichteten Regierungsreferendarius, alles voller Blut und das Gehirn an die Wand gespritzt, nicht zusammengebrochen war, sprach dafür, dass er für diesen Beruf prädestiniert war. Man sagte, den Preußen stünden viele große Kriege ins Haus, und da würden die Militärärzte viel zu tun haben.
Ludwig Liebenthal lebte im Raschkower Armenhaus. Seine Mutter war vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben, sein Vater schon vor langer Zeit nach Amerika gegangen und dort verschollen. Es hieß, sein Erzeuger sei ein italienischer Baumeister gewesen, der in Warschau gearbeitet und auf der Heimreise nach Siena in Raschkow Station gemacht hatte. Wie auch immer, Ludwig sah sehr südländisch aus, und da er ständig an der Seite Berthold Kempinskis gesehen wurde, dachten viele Leute, er sei ebenfalls Jude. Nein, er war evangelisch getauft, aber solange es ihm die eine oder andere Mahlzeit oder ein nicht ganz so abgetragenes neues Kleidungsstück einbrachte, war es ihm egal, welcher Religion er zugerechnet wurde.
Eines der Lieblingsspiele der Raschkower Jungen und Mädchen war immer noch Barrikadenkampf. Es war gerade einmal sieben Jahr her, dass die Märzrevolution Deutschland erschüttert hatte. Eine zerfallene Feldscheune an der Straße nach Ostrowo war ein Wohnhaus am Berliner Alexanderplatz. Die Barrikade bestand aus den Resten eines Heuwagens, einigen Brettern und etlichem Gerümpel. Auf einem löchrigen Waschzuber stand Berthold Kempinski und war der Tierarzt Ludwig Urban, der Anführer der Demokraten. Er und seine Aufständischen hatten vom nahen Acker Kartoffeln aufgelesen und bewarfen damit die anstürmenden Truppen, die von Ludwig Liebenthal kommandiert wurden.
»Attacke!«, schrie Ludwig Liebenthal. »Feuer frei!«
Daraufhin schossen seine Soldaten aus ihren Blasrohren Holunderbeeren ab. Da die Kartoffeln wirksamer waren als die Beeren, musste er aber schnell den Rückzug antreten. Auf der Barrikade wurde enthusiastisch gejubelt. Erst jetzt merkte man, dass einer der Kämpfer, nämlich Ernst Schlüsselfeld, der Sohn des Apothekers, von einem Geschoss getroffen worden war.
»Ins Auge rein!«, schrie er und sank zu Boden. Ob es nun wirklich Blut war oder nur der Saft der Holunderbeere, war nicht zu erkennen, was aber auch egal war.
»Der ist tot«, rief Ludwig Liebenthal.
»Majestät, Hut ab vor den Märzgefallenen«, erscholl es nun von der Barrikade. Und prompt kam Friedrich Wilhelm IV., der nahebei an einer Eiche gelehnt hatte, an die Barrikade und entblößte sein Haupt.
Es tat der Größe dieser Szene keinen Abbruch, dass Seine Majestät von einer Frau gespielt wurde, nämlich von Luise Liebenthal. Sie war ein Jahr älter als ihr Halbbruder und wurde von Berthold Kempinski angebetet. Über ihren Vater wusste man genauso wenig wie über den Ludwigs. Es sollte beim Schiffer-Silvester in Breslau passiert sein. Ihre Mutter hatte aber immer nur geschwiegen. Luise hatte etwas von einer Meisje an sich, und so tippte man darauf, dass ihr Vater ein holländischer Schiffer war. Luise war aus dem Armenhaus ausgezogen und als Mädchen für alles bei den Tschirnaus untergekommen, Raschkower Ackerbürgern, die zwar im Schatten des Rathauses wohnten, aber von der Pferdezucht lebten und Hafer anbauten. Ihnen gehörten