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will Abschied nehmen. Er geht nach Posen in die Kaserne, und es wird bald Krieg geben, das sagen ja alle.«

      Im April 1862 hatte Moritz Kempinski in Breslau eine Großhandlung für ungarische Weine eröffnet, und im Mai besuchte Berthold zum ersten Mal seinen älteren Bruder. Die Idee dazu war ihm ganz spontan gekommen, als Professor Lagow erklärt hatte, seine morgige Stunde müsse wegen einer dringenden Reise nach Breslau leider ausfallen.

      »Würden Sie mir wohl gestatten, mich Ihnen anzuschließen?«, hatte er gefragt.

      Lagow hatte ihn etwas verwundert angesehen. »Kennen Sie denn meinen Vetter Friedrich, den wir zu Grabe tragen wollen?«

      »Oh, mein herzliches Beileid. Nein, ich will nur sehen, ob und wie mein Bruder in Breslau Fuß gefasst hat.« Er erklärte dem Lehrer die Zusammenhänge.

      »Nun denn, Kempinski, ich freue mich auf Ihre Gesellschaft. Wenn Sie Ihre nicht eben hervorragenden Lateinkenntnisse während der Reise ein wenig verbessern wollen, leiste ich Ihnen gern Hilfestellung.«

      Da sich die Bahnstrecken Ostrowo–Kreuzburg und Kreuzburg–Breslau noch im Stadium der Planung befanden, mussten sie mit der Postkutsche vorliebnehmen. Das dauerte, denn betrug die Entfernung zwischen Ostrowo und Breslau in der Luftlinie schon an die achtzig Kilometer, so hatte man auf den vorhandenen Straßen eine wesentlich längere Strecke zurückzulegen. Es gab zwei mögliche Routen, die etwas kürzere über Medzibor und Oels und die andere über Krotoschin, Zduny, Freyhan, Militsch und Trebnitz, die etwas länger war, weil ein Bogen um die Bartsch und das Polnische Wasser und die sich südlich anschließenden Teiche und Sümpfe, aber auch die Trebnitzer Höhen und die Ausläufer des Katzengebirges zu machen war. Die aber mussten sie nehmen, weil Lagow in Krotoschin bei einem Kollegen etwas abzugeben hatte.

      Die Fahrt ging über sandige Chausseen, die voller Schlaglöcher waren, und über holprige Kopfsteinstraßen und war mehr als mühselig. Schon nach einer Stunde fragte ihn der Lehrer, ob er wüsste, woher der Ausdruck »wie gerädert« käme.

      »Ja«, antwortete Kempinski. »Im Mittelalter wurden die Verbrecher auf ein Wagenrad gebunden, damit man ihnen in dieser Lage besser die Knochen brechen konnte.«

      »Richtig, und weil wir diesen Brauch nicht mehr haben, die Leute aber wissen sollen, wie man sich fühlt, wenn man auf ein Rad geflochten ist, lässt man sie in Postkutschen über Land reisen.«

      Hinter Krotoschin überquerten sie die Grenze zwischen den Provinzen Posen und Schlesien, und Professor Lagow sagte, dass er erst jetzt das Gefühl habe, richtig in Deutschland zu sein.

      »Zwar noch nicht in einem Reich aller deutschen Stämme mit einem Kaiser als Oberhaupt, aber wenigstens im Königreich Preußen. Posen ist mir zu polnisch.« Er hielt Kempinski nun einen längeren Vortrag über die Spannungen im Deutschen Bund und darüber, dass es in absehbarer Zeit zum entscheidenden Kampf zwischen Preußen und Österreich kommen würde. »Unser König wird sehr bald auch Deutscher Kaiser sein.« Wilhelm I. hatte am 2. Januar 1861 die Nachfolge seines geisteskranken Bruders Friedrich Wilhelm IV. angetreten.

      Berthold Kempinski schwieg, denn er wusste nicht so recht, was er zu den Ausführungen seines Lehrers sagen sollte. Einerseits fühlte er sich voll und ganz als Deutscher, andererseits gehörte er aufgrund seiner Abstammung zum Volke Israel. Konnte man das unter einen Hut bringen? Im Alltag sicher, nicht aber, wenn man in letzter Konsequenz darüber nachdachte, dann zerriss es einen irgendwie. Also war es gescheiter, nicht darüber nachzudenken und einfach zu leben.

      Als sie rechts die Höhen des Katzengebirges erblickten, fragte Lagow ihn, ob er wisse, was an Trebnitz Besonderes sei.

      Kempinski überlegte einen Augenblick, er war ja im Fach Geographie kein schlechter Schüler. »Nein. Höchstens die Klosterkirche.«

      »Ja, und wer ist dort zum Gottesdienst gegangen?«

      »Sie?«

      »Nein, Friedrich Wilhelm von Seydlitz, geboren 1721 in Kalkar, gestorben 1773 in Ohlau, neben Zieten der berühmteste Reitergeneral Friedrichs des Großen. Hat die Schlachten bei Roßbach und bei Zorndorf entschieden. Bei Zorndorf hat er den Befehl des Königs zum sofortigen Angriff nicht ausgeführt, obwohl der ihm angedroht hatte, bei einer Niederlage mit seinem Kopf dafür zu haften. Aber Seydlitz hielt den Befehl für falsch und griff erst an, nachdem er den Russen in die Flanke fallen konnte. Nur so war der Sieg möglich. 1743 kommt er als Rittmeister zu den Natzmer-Husaren hierher nach Trebnitz, zu den ›Lämmern‹, wie sie wegen ihrer weißen Pelze genannt werden. Ein Jahr später beginnt der Zweite Schlesische Krieg.« Er sah seinen Schüler an. »Interessiert dich das eigentlich?«

      »Ja, schon«, antwortete Kempinski, wenn auch etwas gedehnt.

      »Was möchten Sie denn einmal werden, wenn Sie die Schule abgeschlossen haben?«

      »Was können Juden in Posen schon werden?«, lautete die Gegenfrage.

      Lagow kam wieder auf seine Vorahnung zu sprechen, dass die Völker sich bald im Kampf um die Vorherrschaft in Europa auf den Schlachtfeldern zerfleischen würden. »Wie gesagt, es wird bald große Kriege geben, gegen Österreich, gegen Frankreich, und da wird man nicht mehr fragen, ob jemand Christ ist oder Jude, da wird jeder Deutsche gebraucht. Und Sie, Kempinski, könnten ein guter Arzt werden.«

      »Mein Bruder sagt, dass manche Deutsche eher krepierten, als einen jüdischen Arzt zu rufen.«

      Endlich erreichten sie die Vorstädte Breslaus. Berthold Kempinski hatte sich schon immer für die schlesische Metropole interessiert und sich einiges über Breslau angelesen. Dass hier im 4. und frühen 5. Jahrhundert nach Christus die Silinger gesiedelt hatten, ein Stamm der Vandalen. 990 war die Gegend um Breslau vom polnischen Piasten-Herzog Mieszko I. erobert worden. 1526 kamen dann die Habsburger nach Schlesien und blieben dort so lange, bis sie von den Preußen vertrieben wurden. Das war 1742. Ein Jahrhundert später hatte Breslau die Zahl von hunderttausend Einwohnern erreicht und blühte dank seiner Industriebetriebe immer stärker auf.

      Die Postkutsche hielt auf dem Neumarkt, und ihre Wege trennten sich. Lagow eilte zur Beerdigung, Kempinski machte sich auf die Suche nach dem Geschäft seines Bruders, das sich in der Albrechtstraße 13 befand. Die begann am Ring, endete nach einem halben Kilometer an der Hauptpost und war eine Adresse, mit der man sich sehen lassen konnte. Er fragte nach dem Weg und erfuhr, dass er nur am Neptunbrunnen vorbeigehen musste. »Und dann geradeaus, eine der drei Straßen entlang, die nach Süden gehen, Richtung Stadtgraben.«

      Das war nicht zu verfehlen, und fünf Minuten später war er dort. Ein wenig beklommen blieb er vor dem Schaufenster stehen und blickte zum stolzen Firmenschild empor. M. Kempinski & Co. – Gold auf Schwarz, und alles sehr schwungvoll, was gar nicht recht zum Naturell seines Bruders zu passen schien.

      Dass beide Brüder waren, hätte niemand vermutet, der sie nebeneinanderstehen sah. Moritz war nicht nur acht Jahre älter als er, er war auch ein ganz anderer Typ Mensch. Später sollte einmal jemand sagen, Moritz Kempinski erinnere ihn irgendwie an Hindenburg, während Berthold eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Peter Lorre habe. Jedenfalls war das eine Gesicht streng und kantig, das andere rund und gemütlich. Seine braunen Knopfaugen machten ihn außerordentlich liebenswert, und manche bedauerten, dass er nicht als Komiker auf der Bühne stand.

      Berthold Kempinski zögerte ein wenig, die Ladentür aufzuziehen und einzutreten. Er fühlte sich wie im Gymnasium, wenn er etwas ausgefressen hatte und zum Rektor musste, um seine Strafe in Empfang zu nehmen. Was würde Moritz heute an ihm auszusetzen haben? Dass seine Schuhe staubig waren, dass sein Haar nicht glatt genug gekämmt war? Der Bruder schien nur das eine Ziel zu haben: ihn zu seinem Ebenbild zu machen. Alle fragten, was er denn dagegen hätte, es könne ihm doch nur zum Vorteil gereichen, doch tief im Innern fühlte er, dass er in allem viel begabter war als Moritz und im großen Spiel des Lebens nur verlieren würde, wenn er sich dem anderen anpasste.

      Schon verfluchte er sich, die Reise nach Breslau gemacht zu haben, und überlegte, ob er sich die Zeit bis zu ihrer Rückfahrt nach Ostrowo nicht lieber mit einem Rundgang durch die Breslauer Museen vertreiben sollte, als sein Bruder ihn entdeckte und zur Tür ging, um sie aufzuziehen.

      »Na,

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