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und der Ostsee. Nur ein kleiner Landstreifen, der sogenannte polnische Korridor, soll die Versorgung der Menschen und den Handel in Ostpreußen ermöglichen.“

      Vater atmete tief durch. Mutter war ganz still. Auch die Kinder hatten zugehört. Doch die ganze Tragweite konnte keiner so richtig erfassen.

      Nur langsam löste sich der Schock. Otto war der Erste, der in der Lage war, Schlussfolgerungen zu ziehen. „Stell dir vor, Mutter, wenn wir keine Wehrpflicht mehr haben, gibt es auch keine Soldaten mehr, die vom Staat bezahlt werden. Dann haben wir Arbeitslose und die vielen Betriebe, die die Soldaten versorgt und belieferten, haben keinen Umsatz mehr. Dadurch werden viele Geschäfte schließen müssen.

      Wenn unser Preußen nur noch über einen Korridor mit dem Reich Verbindung haben kann, werden Handel und Eisenbahnverkehr auch dorthin eingeschränkt. Wir leben aber doch hauptsächlich vom Handel! Dann bekommen auch die vielen Tagelöhner im Hafen und auf den Märkten keine Arbeit mehr. Das bedeutet vielleicht auch, dass ich meine Arbeit als Maurer bei der Bahn verliere.

      Wenn dann die Zahlungen der Entschädigungen für die anderen Länder fällig werden, erhöhen sich auch die Abgaben und Steuern für uns, die Waren werden teurer verkauft und das Geld hat weniger Wert. Außerdem haben wir ja von unseren Kolonien Rohstoffe und Lebensmittel billig erhalten. Das fällt ja nun auch weg. Wenn wir wenigstens im Reich wohnen würden, wäre vielleicht die Verteilung gerechter.“

      Traurig über seine eigene Bilanz senkte Otto den Kopf. Auch Anna konnte ihn nicht trösten. Nur eines sagte sie mit aller Bestimmtheit und Zuversicht: „Wir haben uns und unsere Kinder. So lange wir leben, gibt es auch immer mit Gottes Hilfe einen Weg.“

      Die Kinder merkten sehr schnell, dass etwas Wichtiges passiert sein musste und spielten mit ihren Sachen ruhig in der Ecke. Kein Streit – kein lautes Wort war von ihnen zu hören.

      Seufzend stand Mutter auf und bereitete in der Küche das Abendbrot vor. Wie immer gab es Klunkersuppe und eine Schnitte Brot. Nun hieß es wahrscheinlich noch sparsamer mit dem Haushaltsgeld umzugehen. Und dafür musste man schon einige Ideen entwickeln. Ab morgen wollte sie gleich nicht mehr drei Liter Vollmilch, sondern Magermilch für die Kinder kaufen, die dann mit zwei Liter Wasser verdünnt wurden, in die Mehlklunkern würde sie nur noch für die insgesamt sieben Personen zwei Eier einrühren und den Rest Wasser nehmen und den Zucker zum Süßen musste sie wenigstens um ein Drittel verringern.

      Am Abend waren die Gebete von Otto und Anna lang und inbrünstig. Angst wollte sich bei ihnen breit machen. Doch Vater las aus der Bibel den 25. Psalm Vers 17 vor: „Die Angst meines Herzens ist groß; Führe mich aus meinen Nöten“ Und danach auch noch gleich den 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Und je länger sie Zwiesprache mit Gott hielten, um so zuversichtlicher wurden sie. Dankbar für ihr bisheriges Leben und mit dem Vertrauen auf Gott legten sie sich zur Ruhe. Doch der erlösende Schlaf wollte nicht kommen. Zu groß war die Ungewissheit. Nur die Kraft ihrer Liebe ließ sie alle Sorgen für kurze Zeit vergessen.

      Und es dauerte auch nur ein paar Wochen, und Königsberg sowie Preußen richteten sich nach dieser historischen Umwälzung neu ein.

      Es wurde die Kommunale Verwaltung in Königsberg neu geordnet. Nun gab es einen Oberbürgermeister (Hans Lohmeyer) und einen Bürgermeister (Carl Goerdeler), die einzelnen Verwaltungen begannen zu arbeiteten. Die wichtigste Reform war jedoch, dass städtische Betriebe für die Bereiche Verkehr, Energie und Hafen gegründet wurden, die sich wirtschaftlich selbst tragen mussten. In der Union-Gießerei und in der Königsberger Waggonfabrik wurde noch gearbeitet, es gab also noch in einigen kleinen und großen Betrieben Lohn und Brot. Auch eine Stadtbank wurde gegründet, die der Verwaltung der Stadt Kredite gab, um neue wirtschaftliche Initiativen zu unterstützen. Damit war das Alltagsleben, wie es vor dem Krieg gewesen war, teilweise möglich. Jeder versuchte, eine positive Lebenseinstellung zu zeigen. Anna ganz besonders, denn sie fühlte neues Leben in sich.

      Vielleicht wird es ein Christkind? Die Weihnachtsvorbereitungen wurden intensiver als sonst gemacht, denn nach der Entbindung war ja nicht viel Zeit für den Haushalt. Obwohl Anna nun schon das 6. Kind erwartete, war es doch immer wieder ein wunderbares Gefühl, das Leben in sich zu spüren. Zwar war sie oft müde und schlapp, denn sie war ja auch schon 40 Jahre alt. Aber was der Herr ihr schenkte, wollte sie auch dankbar annehmen. Als sie spürte, dass das Kind kommen sollte, schickte sie alle Kinder zu Tante Malche. Ihre Schwester kannte ihre Pflichten: die Hebamme bestellen und die Kinder versorgen. Die Hebamme würde dann Bescheid sagen, wenn alles vorbei war. Am nächsten Tag, am 18. Januar 1920 wurde Lena geboren. Die Geschwister sahen sich das kleine Wesen erstaunt an, zählten die Finger, besahen sich Kopf, Beine und Arme und staunten, dass alles dran war. Mutter ruhte sich noch einen Tag im Bett aus und alle, die helfen konnten, halfen im Haushalt mit.

      Aber nun wurde es eng im Schlafzimmer: Die Eltern schliefen sowieso in einem Bett, das quer an der Hinterwand stand, Lisbeth und Hanna schliefen in dem Bett, das längs davor stand und vor diesem Bett stand noch eines in Richtung Fenster, in dem Herta und Lotte schliefen. Fritz lag noch im Gitterbett links neben der Türe. Ein Schrank für Wäsche und Kleidung rechts neben der Türe lastete den Schlafraum vollends aus. Für Lena konnte also nur ein Wäschekorb als Bettchen eingerichtet werden, der vor dem Bett der Eltern stand.

      Am Abend kehrte immer nur langsam Ruhe ein. Die Kleineren schliefen zwar durch, wenn sie erst einmal eingeschlafen waren, aber die Größeren wurden doch etliche Male durch das Weinen von Lena geweckt. Obwohl Mutter dann schnell in das Körbchen griff und Lena an die Brust zum Stillen nahm, waren eben doch immer ein paar Kinder munter geworden. Vater musste aber unbedingt schlafen, wenn er am nächsten Tag wieder an der Arbeit seine Leistung bringen sollte. Also hieß es dann: „Bsch, seid leise, Vater muss schlafen.“ Die, die munter geworden waren, gingen meistens gleich noch auf das Töpfchen, das unter jedem Bett stand. Der Mitschlafende im Bett musste dann meistens nach dieser Aktion ein wenig zur Seite gedrückt werden, weil er sich breit gemacht hatte. Aber nach kurzer Zeit trat dann doch meistens wieder Ruhe ein.

      Morgens ging es dann doch nicht so ruhig zu. Jeder suchte ein Kleidungsstück, war noch nicht gewaschen (in der Küche unter fließendem kalten Wasser) oder gekämmt, hatte sein Frühstück noch nicht gegessen, kurz um, Mutter war immer froh, wenn die Schulkinder erst einmal alle aus dem Haus waren, damit sie sich den Kleinen widmen konnte. Mutter war noch lange schwach und konnte darum nicht jedem Kind helfen. Radikal führte darum Vater ein: „Jeder legt seine Sachen, die er am nächsten Tag anzieht, auf den Stuhl, auf dem er sonst sitzt, putzt am Abend die Schuhe und stellt seinen gepackten Ranzen daneben. Am Morgen braucht er dann nur alles nacheinander zu nehmen und es gibt keine Sucherei. Habt ihr mich verstanden?“

      Verstanden hatten alle Kinder diese einfache Anweisung. Aber ob es auch klappte? Wenn dann alle Kinder im Bett waren, schaute Mutter noch einmal jedes „Häufchen“ an, um auch gleich zu kontrollieren, ob alles sauber und ganz war. Und es klappte fast immer. Freundlich nickte sie dann ihrem Mann zu, wenn alles in Ordnung war. Aber es ging ja auch gar nicht anders. In der kleinen Wohnung musste Ordnung herrschen.

      Aber die Ordnung in der Regierung hatte sich immer noch nicht gefestigt. Im März hatte die Reichswehr unter Kapp die Regierung gestürzt und die Nationalversammlung aufgelöst. Doch der Putsch war gescheitert. In Königsberg wurde der Oberpräsident Winnig, der mit den Putschisten sympathisiert hatte, seiner Ämter enthoben und es wurde wieder friedlicher.

      Nur ab und an gab es noch Demonstrationen der Nationalsozialisten, die im Land „aufräumen“ wollten und der Linken, die sich um die Früchte ihres Kampfes betrogen fühlten. Aber im Gegensatz zu Thüringen, Sachsen und im Ruhrgebiet verliefen diese Volksansammlungen relativ ruhig.

      *

      Auch Otto und Anna glaubten wieder an eine glückliche Zukunft. Sie lebten in „56“ ruhig und zufrieden. Otto hatte Arbeit und freute sich jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, er seine Frau umarmen konnte und wenn ihn seine Kinder freudig begrüßten.

      Aber manchmal mussten sie auch beichten, was sie für Dummheiten tagsüber gemacht hatten. Das war für sie eigentlich die schlimmste Strafe, denn sie mussten nicht nur bis zur Heimkehr des Vaters warten und Besserung geloben, sondern manchmal löste Vater auch den Lederriemen

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