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waren wahrscheinlich ähnlich wie an diesem Tage, an dem ich diese Zeilen schreibe. Vielleicht gab es keinen Regen, aber sonst könnte es passen.

      Doch wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, diese Zeilen lesen, hat sich die Welt schon wieder weitergedreht, haben die Jahreszeiten schon wieder gewechselt und wir stehen auf der Schwelle in eine andere Zeit. Sind Sie schon bereit für den Weg durch die Vorweihnachtszeit? Die kommenden Wochen haben ihr eigenes Tempo, sind oft von Stress bestimmt. Bremsen Sie ab. Der Advent hat eigentlich seine eigenen, oft leisen Klänge. Doch sie werden meist von Hektik übertönt. Dieses Buch soll Ihnen helfen, wenigstens ab und an zur Ruhe zu kommen. Kleine literarische Oasen, die zum Nachdenken, Meditieren, gerne auch Diskutieren, und zum Schmunzeln anregen können.

      Es liegen wieder 24 Texte von tollen Autorinnen und Autoren vor mir, die aufgeschrieben haben, was in und durch so eine Weihnachtswundernacht alles passieren kann. Fiktive Geschichten, auch persönlich erlebte Storys oder Impulstexte. Zum vierten Mal. In unterschiedlichen Facetten und Stilen. Man kann täglich eine Geschichte lesen oder auch mehrere auf einmal und dann einige Tage pausieren. Wie man Zeit oder Lust hat. Dabei kann es natürlich angehen, dass einen eine Geschichte einmal nicht so sehr berührt oder erreicht. Dafür geht einem anderen Menschen genau bei diesem Text gerade ein Licht auf, das er schon lange ersehnte und das ihn auf seinem Weg stärkt.

      Eine Reihe Autorinnen und Autoren begleiten diese Weihnachtswundernacht bereits seit dem ersten Band. Neue sind hinzugekommen. Einigen der „Alten“ haben sich auch neue Möglichkeiten eröffnet. Jan Hanser zum Beispiel, den jemand nach seiner Veröffentlichung im ersten Band als „die Schreibentdeckung des Jahres“ bezeichnet hat. Von ihm erschien im Frühjahr 2015 sein erster Roman Die Jagd nach der silbernen Feder, im selben Verlag wie dieses Buch. Dieses Mal hat er dafür gesorgt, dass der erst 16-jährige Pierre Weiss als Autor debütieren kann.

      Ein anderer Autor, Fritz Pawelzik, ist letztmalig mit einer Geschichte vertreten. Wenige Tage, nachdem ich ihn noch einmal persönlich getroffen habe und er mir fröhlich einen Text für dieses Buch zusagte, ist er in die Ewigkeit abberufen worden. Freud und Leid nah beieinander, auch im Advent. Dass seine Geschichte noch Eingang in dieses Buch gefunden hat, ist ein Privileg.

      Während ich die Korrekturfahnen Ende Juni lese, werde ich von der traurigen Nachricht überrascht, dass ein Autor der ersten Stunde, Carsten „Storch“ Schmelzer, ebenfalls verstorben ist. Jung, mit erst 43 Jahren. Ein literarischer und theologischer Weggefährte, dessen Verlust mich sehr traurig stimmt. Seine Geschichte ist daher noch wertvoller.

      Ich überlege, ob ich vor der Geschichte von Mickey Wiese eine Warnung aussprechen soll – phasenweise nichts für schwache Nerven und bei allem doch sehr weihnachtlich. Wenngleich sie keinem „weihnachtlichen Schmuseideal“ entspricht. Aber diese Linie verfolgt das Buch auch gar nicht …

      Alle Autorinnen und Autoren eint das Ansinnen, einen besonderen, speziellen Advent zu erleben und eine Weihnachtszeit, die voller zu entdeckender Wunder steckt. Dank an alle, die mitgemacht haben und die sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln literarisch begegnen. Ihnen als Lesern wünsche ich wieder anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch die Adventszeit. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit und zumindest ein echtes Weihnachtswunder.

      THOMAS KLAPPSTEIN

      1. Advent auf dem Zwischendeck

      „Bitte, Maria – du darfst nicht sterben! Halte durch! Wir haben es fast geschafft!“

      Durch das schmutzige Gesicht des 15-jährigen, zitternden Jungen zogen seine Tränen helle Furchen. Jakob hatte bisher niemals geweint. Er hatte gelernt, harte Strafen und Schläge einzustecken, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

      Aber jetzt musste er in Marias Augen sehen, dass ihr Lebenslicht erlosch. Das durfte nicht sein! Sie hatten sich doch gerade erst vor ein paar Tagen gefunden! Für Jakob war Maria der erste Mensch, der ihm Liebe geschenkt hatte. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen, in der Nähe der großen Stadt Köln. Die Stadt freilich hatte er bis vor wenigen Monaten nie gesehen. Er kannte nur die grauen Mauern des Waisenhauses. Sie riegelten die festungsähnlichen Gebäude mit dem ungepflegten Garten voller Disteln und Dornenhecken nach außen völlig ab.

      Das Leben zwischen diesen Mauern war für Jakob ein ständiger Albtraum. Er war klein und schmächtig – das ideale Opfer für Beppo und seine Bande. Die Jungs machten sich einen Spaß daraus, Jakob das Leben schwer zu machen. Wenn sie ihn nicht heimlich verprügelten – denn natürlich durften die Aufseher ihre Untaten nicht mitbekommen – dann versteckten sie seine Schulbücher oder seine Hausaufgaben. Wenn er dann vom Schulmeister mit dem Stock gezüchtigt wurde, feixte die Bande grinsend in der letzten Bankreihe.

      Ungefähr an seinem letzten Geburtstag hatte Jakob beschlossen, aus dem Waisenhaus zu fliehen. Genau kannte er seinen Geburtstag nicht. Ihm war gesagt worden, dass man ihn am 8. Juli 1871 vor der eisernen Pforte der Anstalt gefunden habe. Als winziger Säugling hatte er nackt auf einem Bündel Lumpen gelegen. Bei seiner Flucht war er knapp fünfzehn. Es war nicht einfach gewesen, die „Festung“, wie er das Heim bei sich nannte, zu verlassen. Alle Fenster waren mit Außengittern gesichert, alle Türen nach draußen abgeschlossen – und dann noch diese unüberwindliche Mauer!

      Jakob hatte sich eines Morgens auf dem Fuhrwerk des Milchmanns zwischen den großen Kannen versteckt. Da kam es ihm zugute, dass er so klein und schmächtig war. Unbemerkt von den Aufsehern, war er in die Freiheit gerollt. In Köln hatte Jakob sich dann mit Diebstählen über Wasser gehalten. Schließlich musste er essen, um zu überleben! Weil er im Waisenhaus gelernt hatte, schnell wegzurennen und sich gut zu verstecken, wurde er nie erwischt. Aber natürlich machte er sich Gedanken, was im Winter aus ihm werden sollte, wenn er nicht mehr im Freien leben konnte – schon gar nicht mit den dünnen Lumpen, die er am Leib trug.

      Deshalb horchte er auf, als er zum ersten Mal von der „neuen Welt“ hörte. Er belauschte zwei Bauernburschen, die mit ihrem armseligen Handkarren offensichtlich nur auf der Durchreise in Köln waren. Die zwei wollten nach Amerika, einem wunderbaren Land, wo niemand aufgrund seiner Herkunft oder Religion verfolgt wurde, einem Land, wo es für jeden Arbeit gab. Jakob hatte beschlossen, dieses Land zu suchen, um es für sich zu erobern. Während er weiter zuhörte, erfuhr er, dass Amerika nur mit dem Schiff zu erreichen war.

      Vierzehn Tage sollte die Reise über das große Wasser dauern, die Dampfschiffe fuhren ab Hamburg über den weiten Ozean. Hamburg! Das lag über 300 Meilen von Köln entfernt, Richtung Norden! Dort wollte er nun hin.

      Jakob brauchte mehr als vier Monate, bis er zu Fuß am Hamburger Hafen angekommen war. Staunend wanderte er am Quai entlang. Er war so überwältigt, dass er für einen Moment den eisigen Seewind nicht spürte, der ihm durch sein löcheriges Hemd und um die nackten Beine pfiff. Sicher – er hatte auch in Köln schon Schiffe gesehen. Aber das waren nur Boote gewesen im Vergleich zu diesem imposanten Dampfschiff, das ihn über den Atlantik bringen sollte!

      Und dann wurde dem Jungen bewusst, was er bisher verdrängt hatte: Er würde Geld brauchen, um die Überfahrt zu bezahlen. Selbst die Unterbringung in der untersten Klasse, im Massenquartier im Zwischendeck, war ja für ihn unerschwinglich! Verzweifelt hockte er sich frierend auf ein zusammengerolltes Tau, stützte den Kopf in die Hände und schloss mutlos die Augen.

      Da strich ihm plötzlich eine Hand sanft über den Kopf und eine freundliche Frauenstimme fragte: „Warum bist du so traurig? Kann ich dir helfen?“

      Jakob war völlig verwirrt. Noch nie hatte jemand freundlich mit ihm gesprochen, ihm gar Hilfe angeboten! Er blickte auf – und dachte, er sähe einen Engel. Die junge Frau war vielleicht fünf Jahre älter als er, ihre wundervollen blonden Haare waren zu zwei dicken Zöpfen geflochten und wie Schnecken an den Seiten aufgesteckt. Sie trug eine weiße Bluse, eine warme, bestickte Jacke und einen langen bunten Rock – und sie hatte das schönste Lächeln der Welt.

      So also hatten sie sich vor vier Wochen

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