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wie ich mir diesen Dienst oft abringen musste, stelle ich zum hundertsten Mal fest, dass ich immer noch nicht völlig begreife, wie das möglich war.

      Mein Kopf hat inzwischen viel Wissen über das Wesen der Manipulation gespeichert. Ich habe einiges über die sozialpsychologische Manipulationstechnik und die suggestive Sprachtechnik erfahren. Die Manipulierenden arbeiten damit, um Verhalten, Denken und Fühlen zu beeinflussen. Ich weiß nun, dass man mit Psychotricks Sympathie erzeugen, Emotionen hervorrufen, Einstellungen, Wertvorstellungen, Weltbilder verändern kann, um sie dem Ziel der Führer anzupassen.

      Trotzdem fühle ich in meinem Herzen Schmerz und Trauer über die verlorenen Jahre meines Lebens.

      Manchmal beglückwünschen mich Menschen zu meiner neugewonnenen Freiheit. Sie sagen, ich sollte darüber frohlocken. Aber es ist sehr schwer zu frohlocken, wenn man so viel verloren hat. Jahrzehnte seines Lebens erscheinen einem nun wie in die Mülltonne gekippt. Wo sind die ganzen „Freunde“, denen man so bedingungslos vertraut hat? Wie soll ich angesichts der Zurückweisung meiner Familie frohlocken? Mir tut es oft körperlich weh, wenn ich mich dazu zwinge in eine andere Richtung zu schauen. Eben nicht mehr zurück, sondern nach vorne. Dort kann ich schon die kostbare Freiheit sehen. Das tut gut. Aber das alte Gleis ist noch nicht völlig aus meinem Sinn verschwunden. Es lauert immer wieder darauf, mich aus der Bahn zu werfen.

      Elisabeth Bond schreibt:

      „Das kosmische Gesetz besagt, dass jeder Mensch über sich selber bestimmt. Nichts und niemand kann über einen anderen bestimmen, außer dieser lässt es zu. […] Stimmen die Worte mit den Gedanken überein, stimmt der Ausdruck mit Deiner inneren Haltung überein, haben die Worte einen negativen oder einen konstruktiven Aufbau? Denn Deine Worte führen Dich geradewegs in Deine Bestimmung. Und Deine Bestimmung hier auf Erden ist Dein Seelenplan, ist das, was Du ganz speziell gut kannst oder tun möchtest.“1

      An Bestimmung, Vorherbestimmung, Schicksal hatte ich nie geglaubt. Das hätte der Erklärung widersprochen, dass wir uns einer theokratischen Leitung unterwerfen müssen. Meine innere Stimme hat oft dem widersprochen, was ich tatsächlich gesagt habe. Was mein Seelenplan gewollt hätte, war niemals entscheidend. Wir beachteten den Bibelvers:

      „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine“.2

      Das individuelle ICH musste eine neue Persönlichkeit anziehen und sich dem kollektiven WIR unterwerfen. In meinem Fall geschah dies bereits als ich ein Kind war. Ich ahmte meine Eltern nach. Sie ließen sich von den Forderungen einfangen, die in den vielen Veröffentlichungen der Wachtturm Organisation an sie gestellt wurden. Ich erinnere mich noch sehr gut an das monatliche Mitteilungsblatt mit den Gruppenanforderungen, die unser Leben in den 50er Jahren strukturierten. Das Blatt hieß damals noch Informator, inzwischen Königreichsdienst und enthielt die jeweils aktuellen Aufforderungen zur Tätigkeit an alle Zeugen Jehovas. Es waren Sätze wie die folgenden zu lesen:

       „ … müssen wir predigen …

       … müssen die Wahrheit verkündigen …

       … müssen wachsam und unermüdlich tätig sein …

       Wir müssen vorandrängen.

       Die verbleibende Zeit ist verkürzt.

       Die wahrheitssuchenden Menschen müssen gefunden werden.

       Damit uns das gelingt, müssen wir gewandte Prediger sein.

       Wir müssen unsere Erkenntnis erweitern.

       … müssen wir jedoch eifrig tätig sein.

       Du musst auf dem Laufenden bleiben.

       Du musst bei den Versammlungen aufmerksam zuhören.

       … müssen uns auch vor den feinen Schlingen in acht nehmen.

       Vielleicht ist die Schlinge, die dich zu Fall bringen könnte, die Vergnügungssucht oder der Materialismus. Vielleicht verleiten dich Überstunden-Entschädigungen dazu, den Dienst oder die Zusammenkünfte zu versäumen.“

      Ein wichtiger Hinweis in der Zeit des beginnenden Wirtschaftswunders. Wir sollten nicht etwa mehr Zeit dem eigenen, materiellen Fortschritt widmen als dem Predigen und Jünger machen, die wichtigsten Begriffe, die wir in der neuen Bedeutung lernten. Meine Großmutter sagte dazu „Neumitglieder werben“. Es war die Warnung vor Überstunden. Meine Eltern achteten streng darauf, dass sie für unsere materiellen Bedürfnisse nicht mehr Zeit als unbedingt nötig war einsetzten.3

      Damals wie heute ist predigen, also die Werbung von Neumitgliedern, das oberste Ziel der Zeugen Jehovas. Die Mehrung der Ressourcen der Watchtower Society. Jeder Neue ist eine Quelle von geldwerten Vorteilen durch den Einsatz an freiwilligen Spenden und unbezahlter Arbeitszeit. Ein Immobilienbesitzer hat normalerweise die Kosten für Unterhalt, Reparaturen, Renovierung, Umlagen etc. zu tragen. Die Immobilien der Wachtturm-Gesellschaft bzw. der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas werden von ihren Mitgliedern in freiwilliger Leistung gebaut, unterhalten, und für die Nutzung der Kongresssäle werden zudem regelmäßig freiwillige Spenden an die Wachtturm-Zentrale gleistet. Dazu kommt der kostenlose Werbeeinsatz von Haus zu Haus, auf den Straßen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zu der Zeit, als sich meine Eltern dieser Gemeinschaft anschlossen, gab es weltweit weniger als 500 000 Mitglieder. Im Jahre 2012 waren es mehr als 7 500 000. Das Konzept ist also erfolgreich umgesetzt worden.

      Hätte ich damals auf meine innere Stimme hören können, dann wäre ich dem Vorschlag meines Lehrers gefolgt und hätte eine weiterführende Schule besucht. Doch kurz bevor ich meine Schulzeit abgeschlossen hatte, erschien im Wachtturm vom 1. Februar 1952 die folgende Drohbotschaft, verbunden mit der Abbildung eines flammenden Schwertes:

      „Das Blutbad und die Vernichtung von Harmagedon werden so grässlich sein, dass es jeder menschlichen Beschreibung spottet. Bereits sind die Aasgeier und die wilden Tiere des Waldes und der Zoos eingeladen worden, sich zu erlaben an den vielen Millionen Leichen der Männer, Frauen und Kinder, der Hohen und Mächtigen sowohl wie ihrer sklavischen Diener.“

      Etwas später, im Wachtturm vom 15. Mai 1952, wurde das nahe Ende als so nahe beschrieben, dass es nicht mehr wahrscheinlich wäre, ein Hochschulstudium abschließen zu können.

      „Oder wäre es besser gewesen, in den Vollzeitdienst, den Dienst für unsern Gott Jehovas einzutreten? Schaut, weil wir uns geweiht haben, den Willen Gottes zu tun, sind wir nicht wie die andern hier in der Schule, deren einziges Streben es ist, vorwärtszukommen, eine hohe soziale Stellung zu erlangen und einen Haufen Geld zu verdienen. Wir wissen, dass dieses alte System der Dinge in Harmagedon bald vernichtet wird; was für Gründe sprechen also dafür, eine höhere Schule zu besuchen, wenn wir im Felde sein könnten, um andere zu warnen? Und außerdem besteht die große Gefahr, dass man in den Treibsand der Unsittlichkeit gerät oder wegen der gottlosen Zustände an heutigen Schulen seinen Glauben ganz verliert. […] Die Bildungssysteme sind sehr mangelhaft und der laufende Studiengang für einen Christen von wenig praktischem Wert. Die vor Harmagedon verbleibende kurze Zeit sollte so nutzbringend als möglich verbracht werden. Der Druck auf den Glauben und die Lauterkeit eines Schülers von jeder Seite des Schullebens her ist für den Schüler schwer. Von der einen Seite wird seinem Sinn fortwährend die Evolutionstheorie und der Unglaube aufgezwungen, und aus anderer Richtung suchen die Kräfte der Unsittlichkeit seine christliche Grundlage zu untergraben und zu zerstören. Wer offen Stellung nimmt für Gottes Königreich der Gerechtigkeit als des Menschen einzige Hoffnung wird oft boshaft verleumdet, lächerlich gemacht und von der Studentenschar wie von der Lehrerschaft verfolgt. […] alle Unterrichteten werden unbedenklich zugeben, dass in den gegenwärtigen Bildungssystemen manches verkehrt ist …“

      Der Kernsatz dieses Wachtturms ist wohl der:

       „Es ist gut, wenn du deinem Sinn und auch dem Sinn anderer die Nähe Harmagedons einprägst … Es wird somit offenbar, dass die oben erwähnten Gründe … dafür sprechen, dass man nicht in eine höhere Schule gehe.“

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