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alle weichen Teile so gedehnt wie möglich sein. Nur so kann das volle Potential des Körpers ausgeschöpft werden. Für die Dehnung bedeutet das, die zu trainierenden Regionen nicht zu isolieren. Dehnung kann nur als Einheit funktionieren, weil eben alle Teile des Körpers miteinander verbunden sind.

      Je älter der Mensch wird, desto mehr zieht er sich zusammen. Er schrumpft. So wie das Neugeborene sich ausdehnt und wächst, so zieht sich der alte Mensch zusammen. Die richtige Dehnung ist das wichtigste Mittel der chinesischen Medizin, diesen Verfall zu verhindern. Ebenso verliert man »normalerweise« mit zunehmendem Alter an Beweglichkeit. Beweglichkeit steht für das Leben, Unbeweglichkeit steht für den Tod. Je mehr man sich dem Sterben nähert, desto steifer und unflexibler wird man. Neugeborene sind weich, dehnbar und sehr flexibel. Alte oder sehr kranke Menschen sind steif, unbeweglich und hart. Sie zerfallen langsam. Je länger Sie gut gedehnt und flexibel sind, desto länger können Sie ein gesundes Leben genießen. Sind Sie bereits in einem fortgeschrittenen Alter, benutzen Sie Dehnungsübungen, um sich, solange es nur geht, eine bestmögliche Flexibilität und Beweglichkeit zu erhalten. Selbst wenn Sie es nicht schaffen, diese Dehnungsübungen optimal auszuführen, werden Sie davon profitieren. Solange Sie üben, werden Sie sich verbessern. Ihr gesamter Organismus wird es Ihnen danken. Diese Art des Dehnens ist mühselig, hart und anstrengend, aber wann ist das Leben schon einfach? Im Buddhismus heißt es: »Alles Leben besteht aus einem Kreislauf aus Leiden und Genuss. Erst wenn man eine Leidenszeit hinter sich hat, wird man genießen können, und die Zeit der Freude setzt ein.«

      Die chinesische Dehnung erfüllt in der Kampfkunst auch eine ganz praktische Aufgabe. Bei den Dehnungsübungen streckt man den Körper entweder vollkommen durch oder zieht diesen eng und kraftvoll zusammen. Die Sehnen und die Bänder werden verlängert, ohne dass sie dabei geschwächt werden. Dadurch werden die Gliedmaßen in die Lage versetzt, die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, ohne dass dabei die Gefahr von Zerrungen und dergleichen besteht. Zerrungen entstehen ja meist, weil der Körper der abverlangten Belastung nicht gewachsen ist. Sind die Sehnen hingegen bis zu ihrer natürlichen Grenze gezogen, können Tritte, Schläge und andere Körperbewegungen ohne die sonst zwangsläufige Bremswirkung steifer Muskeln und kurzer Sehnen erfolgen. Dadurch werden nicht nur die Bewegungen schneller, sondern auch das Reaktionsvermögen nimmt zu. Darüber hinaus wächst das Spektrum an möglichen Techniken, was wiederum den Handlungsspielraum enorm erweitert.

      Dadurch, dass die klassische chinesische Dehnung zugleich auch ein Krafttraining ist, verleiht man seinen Schlägen und Tritten ebenfalls mehr Nachdruck. Zudem arbeiten die Muskeln effektiver, was sich wiederum positiv auf die Widerstandsfähigkeit, die sogenannten Nehmerfähigkeiten, auswirkt.

      Das alles vermag eine gute Dehnung. Die Dehnung in Verbindung mit Schlag- und Trittübungen reicht für eine hohe Kampfbereitschaft fast schon aus. In Gefahrensituationen können wir uns auf Grundlage dieses Trainings schnell, kraftvoll und überraschend bewegen.12

      Im Zusammenhang mit der Dehnung sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich der Körperbau von Europäern und Chinesen oft unterscheidet. Im Allgemeinen sind die Beine eines Europäers länger als sein Oberkörper. Bei den Chinesen ist das selten der Fall. Aus diesem Grund fällt uns die chinesische Dehnung so unglaublich schwer. Auch das Mǎbù-Training (siehe Seite 206) ist eine Tortur für uns. Das heißt aber nicht, dass wir keine chinesischen Trainingsmethoden benutzen sollten, im Gegenteil. Weil Dinge wie die Dehnung und das Stehen im mǎbù so außerordentlich effektiv sind, sollten wir sie unbedingt ausführen. Spannen und dehnen wir unseren Körper und unsere Beine, dann erreichen wir eine wesentlich höhere Kraft und Effektivität.

      Die folgenden Abbildungen zeigen das Ergebnis eines langen, beharrlichen Trainings. Lassen Sie sich nicht davon entmutigen, dass einige der gezeigten Stellungen Ihnen als »unmöglich« für sich selbst erscheinen. Gehen Sie die Dehnung mit Geduld und Ausdauer an. Möglicherweise werden Sie zu Beginn nur bis zu den in Abbildungen 9 bzw. 13 gezeigten Positionen gelangen. Doch Sie werden sich allmählich verbessern, Schritt für Schritt. Vermeiden Sie »bequemere« Dehnungen, wie in Abbildungen 12, 15, 18, 19 und 26 dargestellt. Sie führen nicht zum gewünschten Erfolg.

      Diese Art der Dehnung, die auf Chinesisch als shēnyāo (伸腰 – »die Taille strecken«) bezeichnet wird, ist eine klassische und gute Dehnungsvariante. Die Taille bzw. die Hüfte wird dadurch auf sehr vorteilhafte Weise durchgezogen und flexibel gemacht. Besonders empfehlenswert ist das nach langem Sitzen, durch das die Hüfte steif wird und »einrostet«.

      Solches Dehnen ist für den Körper nicht im mindesten schädlich, selbst wenn es dem Laien so erscheinen mag. Im Gegenteil, diese Form der Körperarbeit richtet sich nach der Anatomie und steht in Einklang mit dem Bewegungsradius der Gelenke. Schädlich sind hingegen manche Dehnungsübungen von Akrobaten, Tänzern oder in manchen Sportarten, bei denen Gelenke überdehnt werden. Einen ähnlichen Ansatz wie das chinesische Dehnen verfolgen im übrigen die in jüngerer Vergangenheit im Westen entwickelten Methoden Feldenkrais13 und Rolfing14.

      Abbildungen 8 bis 11 zeigen die erste Dehnungsübung: Der Oberkörper ist vollkommen gerade aufgerichtet. Der Bauch wird eingezogen, die Brust herausgedrückt. Halten Sie den Kopf gerade, das Kinn leicht aufwärts. Die Knie sind vollkommen durchgedrückt. Dann beugen Sie sich mit unverändert gerade gehaltenem Oberkörper so weit wie möglich zu Ihren Füßen hinunter. Abbildung 12 zeigt, wie Sie die Übung nicht ausführen sollten, wenn Sie eine optimale Dehnung erzielen wollen.

      Abbildungen 13 bis 27 zeigen weitere Dehnungsübungen in ihrer korrekten Ausführung und mit typischen Fehlern. All diese Dehnungen werden langsam und nicht mit Schwung ausgeführt. Auf diese Art und Weise werden Ihre Bänder und Sehnen im Körper vollkommen gedehnt. Ebenfalls sind die Übungen gut für den Blutfluss. Diese Art der Dehnung ist neben einer Gesundheits- und Flexibilitätsübung auch eine für den Kraftaufbau, weil es sehr viel Kraft erfordert, den eigenen Körperwiderstand zu überwinden. Sie trainieren eine innere Kraft, wie es beispielsweise durch Gewichtheben nicht möglich ist. Fangen Sie gemächlich an und benutzen Sie anfangs keine große Kraft. Sie müssen nur konsequent bleiben und täglich trainieren. Wenn Sie es gleich am ersten Tag übertreiben, werden Sie sich am zweiten Tag kaum noch bewegen können, was Ihre Motivation bremsen wird.

      Abb. 8

      Abb. 9

      Abb. 10

      Abb. 11

      Abb. 8 bis 11: Vorwärtsdehnung auf richtige Weise. Der Rücken und die Knie müssen vollkommen gestreckt sein. Nur so erhält man den maximalen Effekt.

      Abb. 12: Falsche bzw. uneffektive Körperhaltung bei der Vorwärtsdehnung.

      Abb. 12

      Abb. 13

      Abb. 14

      Abb. 13 und 14: Richtige Dehnung. Die Sehnen und Muskeln des Beins werden von der Fußsohle bis zur Hüfte langgezogen und aufgrund des Muskelwiderstandes zugleich gekräftigt. Der untere Rückenbereich wird durch die richtige chinesische Dehnung vollständig und gleichmäßig beansprucht. Bänder, Sehnen und Muskeln sind beteiligt und werden gestärkt.

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