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Letzte Schicht. Dominique Manotti
Читать онлайн.Название Letzte Schicht
Год выпуска 0
isbn 9783867549721
Автор произведения Dominique Manotti
Жанр Ужасы и Мистика
Издательство Автор
Aber von Maréchal keine Spur, weder in seiner Abteilung noch in den Büros. Um diese Zeit müsste er eigentlich hier sein. Was mach ich jetzt? Ich werd mal mit Nourredine über die Sache reden, er ist aus Rolandes Abteilung, er kennt sie, er schätzt sie.
Als Amrouche ihm von Rolandes Entlassung erzählt, ist Nourredine erschüttert. Rolande, ihre vertraute hohe Gestalt, ihr klarer, aufmerksamer, warmer Blick. Eine Geste, ein Wort, wie nebenbei, sie hat mir geholfen, die ersten Tage in der Fabrik zu überstehen, als ich bloß ein unglücklicher, stummer Bengel war, und später dann, hier meinen Platz zu finden. Kommt nicht in Frage, sie hängen zu lassen, schon gar nicht nach diesem grauenhaften Unfall.
Er überträgt seine Arbeit den anderen aus seiner Schicht, um mit Maréchal zu klären, wie es jetzt weitergehen soll. Aber er findet ihn ebenso wenig wie Amrouche. Zurück zur Verpackungsabteilung. Kurze gemeinsame Diskussion. Der grauenhafte Unfall, noch ganz gegenwärtig, das weiße Licht, der Schrei, die vibrierenden Blechwände, Émiliennes lebloser Körper, der in dem Durcheinander kurz zu sehen war, und am Ende wird das Band nicht mal richtig angehalten, und ein paar Mädchen sind nach wie vor am Arbeiten, ohne dass der Stromkreis auch nur einmal ganz durchgecheckt wurde, Rolande ist entlassen und der Mistkerl Maréchal unauffindbar. Kann ja sein, dass der sogar dahintersteckt, als Ablenkungsmanöver, damit wir über Rolandes Entlassung reden und nicht über den Unfall. Elektrizität gibt es in der einen oder anderen Form überall, an allen Arbeitsplätzen. Wenn keiner was unternimmt, müssen wir noch alle dran glauben. In der Pause muss ich zu den Mädchen von der Fertigung.
Zwanzig Minuten Pause, gerade noch Zeit, um die Mädchen im Hauptgang abzupassen, bevor sie zur Cafeteria gehen, die Männer von der Verpackung lotsen sie durch die rückwärtige Tür auf das unbebaute Gelände hinter der Fabrik, wo alle sich auf ausrangierte Paletten setzen. Ein merkwürdiger Ort, dieser Blechwürfel, auf die Schnelle auf die Industriebrachen in einer von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Talsohle gesetzt, wo nicht mal eine Generation zuvor noch die Hochöfen der lothringischen Eisenverhüttung gestanden hatten, die zu den leistungsfähigsten weltweit zählte. Heute ergreifen die Wälder, die aufs Neue die Anhöhen überziehen, langsam wieder Besitz von der Landschaft und von der Vorstellungswelt der in ihr lebenden Menschen. Es ist sehr kühl.
Étienne, Nourredines Freund, betrachtet die Mädchen. Sie sind schön, alle. Wieso hast du nicht früher schon mal daran gedacht, sie anzubaggern? Bist du blind oder was?
Auch Amrouche ist da, steht erst unschlüssig herum und setzt sich dann zu ihnen.
Nourredine steigt auf eine Palette, groß, schlank, in seinem grauen Arbeitskittel, asketisches Gesicht, steif, linkisch. Er kommt gleich zur Sache: Maréchal hat dafür gesorgt, dass Rolande entlassen wurde. Amrouche fühlt sich unbehaglich, sagt nichts.
Einige Sekunden totales Schweigen. Die Mädchen bibbern. Vor Kälte und Angst. Dann erhebt sich Aïsha. Mit vor der Brust verschränkten Armen, zittriger Stimme und zittrigen Lippen, findet sie endlich die Worte, um vom Tod des koreanischen Ingenieurs zu erzählen, genau einen Monat ist es her, alle haben davon gehört, aber sie hat es miterlebt, ihr Arbeitsplatz war neben dem Rotor in Sektor IV, als der ausfiel. Der Ingenieur ist gekommen, hat auf den Knopf am Ende der Reihe gedrückt, um an dem Bandabschnitt den Strom abzuschalten, hat das Schutzgehäuse des Rotors entfernt und sich tief in die Maschine hinabgebeugt, um sie zu reparieren. Aïsha stand hinter ihm. Dann ist ein anderer Koreaner vorbeigekommen, hat nicht kapiert, warum das Band nicht lief, hat die Arbeiterinnen auch nicht gefragt, verstanden hätte er sie ohnehin nicht, und bevor ihn einer stoppen konnte, hat er den Knopf gedrückt, um den Strom anzuschalten und das Band wieder in Gang zu setzen. Der Rotor hatte keine Sicherheitsabschaltung, und dem Ingenieur wurde der Kopf glatt abgetrennt. Ich habe gesehen, wie der Körper ohne Kopf sich aufgerichtet hat. Man hat mir gesagt, das geht gar nicht, aber ich hab es gesehen, und auch, wie das Blut stoßweise hervorgesprudelt ist, ich habe das Blut auf meinem Gesicht gespürt, auf meinen Händen, dann ist der Körper vor meinen Füßen zusammengebrochen. Ich seh’s immer wieder vor mir, diese Bewegung des kopflosen Körpers, der sich aufrichtet, jede Nacht. Und wenn ich im Dunkeln wach werde, spüre ich die Wärme des Blutes auf meinem Gesicht. Sie wollten, dass ich am nächsten Tag wieder arbeite, am selben Platz. Das fanden sie normal. Ein Unfall, aufräumen, saubermachen, weiter geht’s. Nie hätte ich mich wieder neben den Rotor setzen können. Rolande hat alles so geregelt, dass ich in die Fertigung kam, dass ich weiter arbeiten kann. Und jetzt kriegt Émilienne ’nen Stromschlag, ihr Baby ist tot und Rolande entlassen wie der letzte Dreck.
Schweigen. Alle sehen Aïsha an. Verkrampft und bebend, mit ihrem blassen Gesicht und dem gescheitelten tiefschwarzen Haar, das ihr glatt über die Schläfen fällt und im Nacken zusammengebunden ist, verkörpert sie in diesem Augenblick auf diesem Stück Brachland hinter der Fabrik aus Blech die Tragödie in ihrer aller täglichem Leben.
Amrouche schließt die Augen. Auch er hat seinen altvertrauten Alptraum. Er ist zwanzig, er arbeitet oben auf dem Steg in der großen Halle, die Pfanne mit dem flüssigen Stahl explodiert zehn Meter unter seinen Füßen, dreißig Tonnen kochender Stahl, die etwa fünfzehn Männer verschlingen, wilde Schreie, der Geruch von verkohltem Fleisch, unerträglich. Hör auf, reiß dich zusammen.
Jemand sagt: »Meine Frau arbeitet in den Büros. Sie hat gehört, dass im Dezember die Prämien nicht gezahlt werden sollen.«
Alle Blicke richten sich auf Amrouche, der sich räuspert.
»Ich glaube, das stimmt. Ich glaube, sie haben entschieden, die monatlichen Prämien nicht zu zahlen, die letzten Februar beschlossen worden sind und die im Dezember auf einen Schlag ausgezahlt werden sollten. Keine Prämien dieses Jahr. Die erste Prämie wird nächsten Januar gezahlt.«
Warum hast du das in diesem Augenblick gesagt? Zu spät wird dir klar, dass du Öl ins Feuer gießen wolltest, weil du dir nicht anders zu helfen wusstest. Vielleicht wolltest du von Maréchal ablenken, der früher auch Stahlarbeiter war, vor allem aber wolltest du der unerträglichen Angst ein Ende machen, die dich seit Aïshas Bericht, seit der übermächtigen Wiederkehr dieser Walze aus flüssigem Stahl gepackt hält, dieser Angst vor Unfall und Tod, weil der Mensch so ist, denkst du, weil du nichts dafür kannst, denkst du, und weil du lieber vergessen willst. Dass sie uns aber von hier auf jetzt die Prämien stehlen, die sich angesammelt haben und inzwischen fast einem Monatsgehalt entsprechen, die Prämien, die einem zustanden, mit denen man gerechnet hat, die schon für bestimmte Ausgaben verplant waren, das ist was anderes, ein anderes Thema, vertraut, überschaubar, irgendwie beruhigend.
In der Gruppe, die da auf dem unbebauten Gelände hinter der Fabrik vor Kälte bibbert, entladen sich jetzt Angst, Wut, Groll und Not: sofortige Zahlung der Prämien. Nourredine fügt hinzu: sofortige Wiedereinstellung von Rolande. Die Gruppe kehrt in die Fabrik zurück, um durch alle Werkstätten zu ziehen. Eine halbe Stunde später steht die ganze Fabrik still.
Vertrauliches