ТОП просматриваемых книг сайта:
Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich
Читать онлайн.Название Zwei Freunde
Год выпуска 0
isbn 9783957840127
Автор произведения Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство Автор
Nun war es geschehen.
Wenn der einsame Assessor an seinem Schreibtisch den Kopf hob, sah er die kahle, gelblich gestrichene Wand vor sich, links lag das Fenster. Sein Dienstzimmer war nicht groß; er hockte auf beschränktem Raum zwischen Tisch, Schrank, Regal, Aktenbock und verdecktem Waschtisch. Sitzgelegenheiten waren nur für zwei Besucher vorgesehen. Assessoren hielten noch keine Konferenzen ab.
Die Handbücherei lag nach der anderen Seite der Ottostraße zu. Er wollte später hinübergehen. Erst reizten ihn die Blätter in der blauen Mappe.
Als er den Deckel aufschlug, fand er vier Seiten Schreibmaschinenschrift im Original, auf festem weißem Papier, wie es schien, ganz ohne Fehler geschrieben, von Fräulein du Prel natürlich; er kannte schon den Typ der Adlermaschine. Gleich die ersten Sätze verrieten, daß es sich um ein Exposé über die zu erwartende Konjunkturentwicklunghandelte. Das Ganze war nicht so optimistisch gestimmt, wie Wichmann gefühlsmäßig für richtig gehalten hätte, doch waren die weniger günstigen Prognosen einleuchtend begründet. Auf der vierten Seite, rechts unten in der Ecke, stand das in Blaustift ausgeführte »G« mit dem versteckten Schnörkel. Eine Ausarbeitung des Ministerialrats persönlich.
Wichmann suchte angestrichene Stellen, aber er konnte nicht mehr als die eine auf der zweiten Seite entdecken, die ihm schon beim ersten Blick aufgefallen war. Der Satz: »Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung hielt sich im August 1928 noch auf dem jahreszeitlich bedingten niedrigen Stand« war mit Bleistift dick unterstrichen, und am Rande dieser Zeile stand ein grünes Fragezeichen.
Ein grünes Fragezeichen.
Vorrecht des Staatssekretärs!
Wichmann klappte die Mappe zu, griff sich zwanzig linienlose Bogen, untersuchte, ob der Füllhalter ordnungsgemäß in der linken Brusttasche hing, und machte sich auf den Weg. In der Handbücherei wollte er die Unterlagen suchen, um den beanstandeten Satz nachzuprüfen.
Der langgestreckte Raum der Abteilungsbücherei mit den großen Fenstern war ohne Aufsicht und Besucher. Das Licht lag hell auf den abgewetzten Stellen der grünen Tischbespannung; es roch nach dem Staub der Bücherborde, die schwer belastet die Wände säumten. Die Ärmlichkeit des Raumes, die hilflose Pedanterie, mit der ein Handbesen die Wolle der Tischbespannung abgekehrt zu haben schien, um den Staub in die Ecken zu treiben, in denen er die papiernen Mumien juristischer Geister fraß, die alten ausgebleichten Tintenkleckse, Zeugen vergangenen Fleißes, erinnerten – Wichmann wußte nicht, warum – an den Inspektor Baier und seine Brille in der billigen Stahlfassung. Während Wichmann die Aufschriften auf den Rücken der Gesetzblätter, der Kompendien und Kommentare zu entziffern suchte, fiel ihm ein, daß Herr Baier wirklich als der für die Ordnung dieser Bibliothek Verantwortliche genannt worden war.
Ein einziger ungeordneter Fleck entzog sich der Vision von der Obhut des bebrillten Mannes und gehörte einem anderen Reiche an. Es war ein kleines, für sich stehendes Pult am Fenster. Schief liegende Akten, eine Illustrierte und ein Paar Damenhandschuhe, deren Größe Wichmann höchstens auf Nr. 5 schätzte, schoben sich auf der Platte durcheinander. Die Handschuhe, schwarzes Glacé, weiß abgenäht, mit einem ausgerissenen Finger, entsprachen jener flotten Seidenkappe, die am Kleiderständer baumelte und als zweites Hauptstück eines Indizienbeweises Schlüsse auf den persönlichen Mittelpunkt der Unordnung zuließ.
Es geziemte dem Regierungsassessor, hiervon Abstand zu halten und sich mit einem grünen Fragezeichen zu beschäftigen. Obwohl kein Verzeichnis aufzufinden war, fand Wichmann sich in der Ordnung der Bücher verhältnismäßig rasch zurecht und stellte die gesuchten statistischen Unterlagen zusammen.
Der angezweifelte Satz bestand zu Recht. Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger nahm im Sommer regelmäßig ab, im Winter zu. »Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung hielt sich im August 1928 noch auf dem jahreszeitlich bedingten niedrigen Stand.« Noch … noch … ja, denn ab September konnte sie, eben aus jahreszeitlichen Gründen, wieder ansteigen. Vielleicht steckte mehr in diesem »noch«, vielleicht, nein, sogar sicher, vermutete der Verfasser des Exposés, daß die Arbeitslosigkeit im beginnenden Winter über das Maß einer saisonalen Schwankung hinaus anwachsen werde. Galt das Fragezeichen diesem »noch?« Kaum, denn nicht dieses Wort, sondern der ganze Satz war mit Bleistift unterstrichen. Wenn die grüne Fragezeichenschlange sich dennoch im Zweifel über den Pessimismus der Ausführungen Grevenhagens kringelte, so hätte der Staatssekretär sie zweckmäßiger neben andere, in dieser Richtung sehr viel deutlichere, Behauptungen gesetzt. Man mußte doch annehmen, daß ein Staatssekretär sich zweckmäßig zu verhalten verstand.
»Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger …« Die Behauptung stimmt eben einfach, Herr St., die Sache stimmt. Warum machen Sie mit Ihrem spitzen grünen Stift ein Preisrätsel daraus?
Wichmann schüttelte den Kopf, brachte Jahrbücher und Zeitschriften wieder an ihren Platz, legte die blaue Mappe mit dem Exposé links beiseite, wie es auch Grevenhagen auf seinem Schreibtisch getan hatte, und entwarf den Plan zur Ausführung des größeren Arbeitsauftrags, der ihm oblag. Vielleicht ging ihm später ein Licht über jenes Fragezeichen auf.
Der Assessor stieg die Regalleiter auf und ab und schleppte die schweren Bände mit den Verhandlungsberichten des Parlaments zu seinem Platz herbei. Mit dem Rücken gegen das Fenster und das ungeordnete Pult hatte er sich an einem der langgestreckten Tische eingerichtetund blätterte und suchte. Die Arbeit, die er jetzt begann, war aussichtsreicher. Warum gerade … nein, Schluß. Wichmann schob die blaue Mappe noch etwas weiter ab. Er wollte sich ganz der Vorbereitung einer Denkschrift für die Etatsverhandlungen widmen, für die Grevenhagen ihn zum Mitarbeiter bestimmt hatte. Die Erscheinung dieses Ministerialrats, seine schweigsame Sekretärin und der erste Eindruck des mächtigen Sandsteinhauses im Herbstlicht hatten sich für Oskar Wichmanns Vorstellungskraft zu einem Symbol strenger Arbeit zusammengeschlossen, die ihn jetzt ganz gefangennahm.
Seine Züge spannten sich an, und er runzelte die Stirn, wie er schon als Schüler getan hatte, wenn sein Verstand einen gesuchten Gegenstand hervorholte und ihn, scharf wie ein Messer, zerteilte. Aus dem trübe scheinenden Wasser sich wiederholender Verhandlungen von Plenum und Haushaltsausschuß über den Etat des Ministeriums fischte Wichmann die Perlen einiger Tatsachen heraus, deren Kenntnis für die neue Auseinandersetzung dieses Jahres benötigt wurde. Als sich das Material häufte und der Füllhalter immer mehr der linienlosen Bogen mit Notizen bedeckte, fielen dem Suchenden die ersten wichtigen Zusammenhänge auf.
Seine Feder und seine Stifte eilten über das Papier. Als er seine Disposition prüfte, schien sie ihm gut, und die kleineren Bemerkungen, Seitenblicke und Hiebe, die aus den Parlamentsverhandlungen noch zur Sache gehörten, schwirrten fast von selbst herbei und gleich zu dem gehörigen Platz, als sei ein Magnet in Wichmanns Hand gekommen. Er hatte Glück und fand mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Glück? Zufall? Notwendigkeit? Das Gefühl, vom Schicksal begünstigt zu sein, das seinem stützebedürftigen Selbstbewußtsein noch mehr zu schmeicheln vermochte als der Stolz auf eigene Leistung, machte Oskar Wichmann kindlich froh. Er hatte einige sehr wichtige Aussagen gefunden, die im nächsten Turniergang seines Ministeriums mit dem Parlament als Waffe zu verwenden waren.
»Seines« Ministeriums!
Das war das erste Mal, daß Oskar Wichmann dieses Wort der Zusammengehörigkeit gedacht hatte.
Der Zeiger der elektrischen Uhr über der Tür ging ruckweise vor. Der Arbeitende bemerkte ihn erst jetzt, und jetzt mochte er auch ruhig vorrücken. Es war zwölf Uhr. In kaum zwei Stunden hatte der Assessor geleistet, was andere – oder auch er selbst an weniger glücklichen Tagen – kaum in der acht- bis zehnfachen Zeit hätten schaffen können. Sein eindringliches Interesse hatte ihn ganz in der Arbeit versinken lassen; jetzt tauchte er auf wie ein Taucher aus tiefem Wasser, der lachend an der Oberfläche prustet, während seine Züge noch die überwundene Anstrengung verraten. Bis zur Mittagspause um dreizehn Uhr blieb eine Stunde; bis dahin konnte er so weit vorbereitet sein, daß er nach einer leiblichen Stärkung mit dem Diktat beginnen würde.
»Guten Morgen!«
Wichmann schrak zusammen, als der Gruß nahe seinem Ohr erklang. Er hatte nicht bemerkt, daß jemand