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FLUCHSPUR. Gordon Kies
Читать онлайн.Название FLUCHSPUR
Год выпуска 0
isbn 9783957448828
Автор произведения Gordon Kies
Жанр Зарубежные детективы
Издательство Автор
- Reiß dich zusammen!- Ka … kann … nicht.- Du bist wertlos für sie, wenn du nicht arbeiten kannst.
Jeden Abend um Zehn mussten die Männer antreten. Es gab keinen Grund dafür. Zwanzig Minuten, nichts als Kälte und das Lachen der Russen.
Die Steinbrocken kamen aus einem nahegelegenen Bergwerk, das bei den Arbeitern als die Hölle bezeichnet wurde. Hier im Lager wurden sie zerkleinert und dann mit Lastwagen in die zerstörten Städte transportiert. Russland brauchte neue Mauern. Trotz der Kälte schwitzte Großvater. Der Schuss hob sich klar und deutlich von dem Geräusch wenn Spitzhacken auf Stein trifft ab. Großvater hatte es kommen sehen. Der Mann hatte keine Kraft mehr gehabt, seine Arme zu heben, geschweige denn, eine Spitzhacke. Der Schütze bellte einen bekannten und unmissverständlichen Befehl in Richtung Großvater und seinem Nebenmann. Sie nickten, legten ihre Spitzhacken nieder und zogen den Leichnam an den Armen vom Steinhaufen. Er war leicht wie eine Feder. Sie legten ihn zu den Anderen. Auf den Wachtürmen patrouillierten bewaffnete Soldaten. Sie hatten nicht viel zu tun. Blickte man durch die Maschen des Zaunes, hätte man denken können, die Welt sei tatsächlich eine Scheibe. Niemand hatte in den neun Monaten, seit Großvater hier war, einen Fluchtversuch unternommen. Gleich zum Anfang der Inhaftierung hatte man ihnen demonstriert was passieren würde. Ausgehungerte Hunde sind schnell und erbarmungslos und die Wachen nicht die lausigen Schützen, als die sie Goebbels Propaganda stets hingestellt hatte.
Am Abend kauerte Großvater an der Wand der Baracke unter einer dünnen Filzdecke und versuchte seine Socken zu trocknen, indem er sie an seinem Körper rieb. Eine Lektion, die ihm auf der ostpreußischen Infanterieschule eingebläut wurde: Immer auf trockene Socken achten! Fußfäule war bei der klammen Kälte eine nicht zu unterschätzende Bedrohung. Sein Magen knurrte. Er tastete im Dunkeln nach dem Karamellbonbon. Er hatte es all die Monate gehütet wie einen Schatz. Nicht einmal die Russen hatten es gefunden. Das Bonbon, eingewickelt in buntem Papier, war ein Geschenk einer liebreizenden Schwester, die es ihm bei seinem letzten Aufenthalt im deutschen Soldatenheim bei Pillau gegeben hatte. In all dem Leid, der Kälte, dem Sterben, das um ihn herum herrschte, schenkten ihm die bunten Farben des Bonbonpapiers ein wenig Hoffnung. Großvater erschrak, das Versteck hinter seiner hölzernen Pritsche war leer. Großvater suchte. Vergebens. Tränen liefen über sein Gesicht. Nicht zum ersten Mal kam ein Verlangen in ihm auf. Ein starkes Verlangen. Ein Verlangen nach einer geladenen und entsicherten Waffe, deren Lauf er sich in den Mund stecken konnte. Man hörte die Russen singen und lachen. Großvater hätte seinen linken Arm für einen winzigen Schluck des wärmenden Wodkas gegeben, den sich seine Peiniger einverleibten. Er betete, dass er auch diese Nacht überleben würde. In den letzten Wochen starben immer mehr seiner Kameraden. Jemand hatte mal gesagt, dass die Tatsache, dass das Leben aufhört, es so wertvoll macht. Großvater hätte diesen Jemand gerne an diesen Ort geholt und ihn gefragt, wie wertvoll das Leben hier sei. Jeder Tag war wie der andere und der Tag an dem man stirbt ebenso … nur kürzer. Großvater schloss die Augen, sehnte die guten Träume herbei. Meistens kamen die anderen, die Bösen. Die Hunde in ihrem Verschlag bellten, sie waren hungrig, gierig auf die Jagd. Gejagte gab es hier genug. Für die Russen war es ein netter Zeitvertreib, ein Spektakel. Tier gegen Mensch. Gnadenlos. Sinnlos. Die Waldgrenze war unerreichbar. Bei diesem Spektakel gab es nur die Option auf Tod, keine Alternative. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt, aber sie stirbt. Die Gejagten stolperten um ihr Leben. Vor den Augen ihrer Kameraden, begleitet vom Gejohle der Peiniger, starben sie immerhin als freie Männer.
Der Kasten diente zur Abschreckung. Er war gerade so groß, dass ein Mann darin hocken konnte. Die untere Hälfte bestand aus dickem Glas und die obere Hälfte aus dicken Gitterstäben. Jeden Morgen mussten die Gefangenen davor zum Appell antreten. Jeden Morgen war der Anblick entsetzlicher. Der Mann in dem Kasten bekam ein Laib Brot und einen Krug Wasser. Er sollte nicht sterben. Noch nicht. Die gebogene Wirbelsäule bohrte sich durch das aufgeweichte Fleisch. Der Kasten war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Exkremente und Urin verbreiteten einen bestialischen Gestank. Während ein Soldat erfasste, wie viele der Gefangenen in der letzten Nacht gestorben waren, versuchte Großvater sich dem Anblick vor ihm zu entziehen. Da er nicht essen wollte oder konnte, bearbeiteten die Soldaten den Mann mit einer Klemme, die an eine Autobatterie angeschlossen war. Das dreckige Wasser schwappte gegen das Glas, der Mann zuckte und öffnete den Mund. Seine Augen lagen in dunklen, tiefen Höhlen und sein Aussehen hatte alles Menschliche verloren. Die Haut war weiß und rissig, aufgedunsen und aus den Wunden, die ihm zugefügt wurden wuselten Maden in das Wasser. Überall waren Fliegen. Großvater schloss die Augen und hörte die kraftlosen Proteste des Mannes. Die Russen wollten noch ein paar Tage ihren Spaß. Die Glocke erklang. Drei Tote. Steine schlagen. Warum? Darum.
Ein neuer Tag, das gleiche Leid. Großvater nahm die Beine des Toten, ein Anderer die Schultern. Sie trugen die Leiche hinter die Baracke und schmissen sie auf den Haufen. Großvater sah das bunte Bonbonpapier. Unwirklich. Zusammengeknüllt. Am falschen Ort. In der Hand des Toten.
6
Er hatte wieder einen Albtraum gehabt. Ludwig schlüpfte in seine Pantoffeln, ging ins Bad und setzte sich auf die Toilette. Bei jedem Wasserlassen erwartete er den unerträglichen Schmerz, den der Abgang des letzten verbliebenen Nierensteins verursachen würde. Ludwig hatte schon viermal Rasierklingen gepinkelt. Ein erleichtertes Seufzen drang aus seinem Mund. Der Spiegel zeigte einen Mann, dem das Leben zusetzte. Zwischen den buschigen Augenbrauen, über einer schmalen, großen Nase die entfernt an den Schnabel eines Raubvogels erinnerte, verliefen zwei tiefe Falten und zeugten von Skepsis. Die scheuen, braunen Augen blickten müde und kritisch. Seine Ohren waren groß, die Ohrläppchen fleischig. Sein Teint ließ sich am besten als leberwurstfarben bezeichnen. Ungesund. Einige Muttermale. Vereinzelte Aknenarben. Schmale, nach Feuchtigkeit lechzende Lippen schmiegten sich an kleine Zähne. Das Kinn markant und ausufernd. Die Wangen eingefallen wie bei einem KZ- Häftling. Der Adamsapfel bohrte sich durch die raue, von Rasurbrand gereizte Haut. Die straßenköterbraunen, raspelkurzen Haare, dünn, brüchig und mit zu vielen Wirbeln, ließen keine andere Frisur zu. Der Haaransatz befand sich auf dem Rückzug. Renate hatte ihm in einer ihrer Illustrierten das Foto eines Mannes gezeigt, der ihm ähnelte. Ludwig erkannte die Ähnlichkeit nicht, ebenso wenig wie er den Namen Vincent Gallo kannte. Im Prinzip war Ludwig nicht hässlich, aber auch nicht schön. Er war zu dünn und es wirkte, als würde eine unsichtbare Last auf seinen Schultern ruhen. Renate sagte ihm andauernd, er solle gerade gehen. Körperspannung war ein Fremdwort für Ludwig. Im Schlafzimmer dröhnte das Schnarchen seiner Frau, die keinen Grund hatte aufzustehen. Ludwig stieg in seine Buntfaltenhose, streifte weißes Unterhemd und blaues Oberhemd über und setzte sich auf die Bettkante, um seine schwarzen Socken anzuziehen.
In der Küche schnitt er die Kanten des Toasts ab und legte sie George, dem Albinokaninchen seiner Frau, in den Käfig. Er strich die Marmelade seiner Schwiegermutter auf das Toast und legte es in die Brotdose neben die Banane. Er schaute auf seine Armbanduhr und leerte eilig seinen Becher Kaffee. Der Bus würde nicht warten und einen Führerschein hatte er nicht. Er war nicht mal in die Nähe einer