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genommen nur noch an das Unaufhaltsame erinnert.“

      Anna blickte gedankenverloren aus dem Fenster, legte ihre Stirn in Falten, hob die Augenbrauen etwas in die Höhe und lächelte leicht. Es war ungefähr ein Blick, den Menschen aufsetzen, wenn sie sich über die kurzsichtige Meinung eines anderen eigentlich nur noch belustigen können, aber bemüht sind, jegliche Spur von Belustigung und den Wunsch nach Erklärung der eigenen Sichtweise zu unterdrücken.

      „Als ich noch klein war“, begann sie langsam zu sprechen, legte dann eine kurze Pause ein und vollendete ihren Satz schließlich: „wollte ich einmal von meiner Großmutter wissen, ob sie ein Geheimnis habe, von dem niemand etwas wüsste. Sie beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: ‚Es gibt ein Geheimnis, das wir alle teilen: das Geheimnis der goldenen Brücke.’ Ich musste ein ziemlich blödes Gesicht gemacht haben“, lachte Anna. „Jedenfalls sagte sie dann: ,Wenn wir auf die Welt gekommen sind und unseren ersten Traum haben, können wir sie sehen: die Brücke aus purem Gold. Aber niemand weiß, wohin sie führt. Das ist ihr Geheimnis.’“

      „Unglaublich!“ Erik hatte diesem Wort einen besonders hämischen und tiefen Klang verliehen und klatschte dabei in seine Hände. „Und das hat dir deine Großmutter erzählt?“ Erik machte eine ungläubige, aber auch belustigte Mimik.

      „Was soll das heißen? Glaubst du mir etwa nicht?“, entrüstete sich Anna mit gespielter Empörung und blickte wieder auf ihr Baby: „Nicht wahr Peter, Papa glaubt uns nicht.“

      „Ich würde eher sagen, dass ich deiner Großmutter nicht glaube!“, entgegnete Erik und setzte sich zu Anna auf das Bett.

      „Das ist doch nur Wortklauberei. Ich habe dich schon längst durchschaut, du Schuft! Willst dich bei uns beiden wieder einschmeicheln.“

      „Ach, und wenn schon! Schau, Peter ist gar nicht mehr sauer auf mich“, triumphierte Erik und streichelte Peter vorsichtig über die Wange.

      „Woher willst du das jetzt schon wieder wissen?“

      „So lieb und friedlich wie er guckt, kann er gar nicht sauer sein. Also, nun ja, so friedlich siehst du jedenfalls nicht aus, wenn du sauer auf mich bist.“

      „Wie bitte?“, entfuhr es Anna, die für einen Augenblick sprachlos war über eine derart uncharmante Äußerung. „Du ja nun auch nicht gerade, Erik!“

      Erik zog seinen Fotoapparat heraus und fotografierte die beiden. Es war einer von diesen Dingern, aus denen die Bilder gleich ausgedruckt wurden. Der Auslöser klickte, der Apparat summte einen kurzen Augenblick, spuckte dann ein weißes, viereckiges Blatt aus und Erik zog es aus der Halterung heraus. Er wedelte das Blatt etwas in die eine Richtung, dann in die andere Richtung. Man gewann ein wenig den Eindruck als versuchte er zu verhindern, dass sich das Foto von selbst entzündet. Mit der Zeit deutete sich eine leichte Schraffierung an, die erst dunkler, dann von verschiedenen Farbtönen eingekreist wurde und schließlich ein blasses Farbfoto angefertigt hatte. Am Ende erkannte man Anna und Peter, eingekuschelt in weißen Bettlaken. Hinter ihnen bäumte sich eine weiße Wand auf, an der ein kleines Bild mit einem unbekannten Gesicht hing. Erik begutachtete das Foto wie einen Geldschein. Er ärgerte sich über den Schatten, den er an der Wand fotografiert hatte. Ein Schatten, der weder vor dem Auslöser noch danach an dieser Stelle zu finden war, was den einzigen Schluss zuließ, dass Erik wieder einmal einen Finger vor das Objektiv gehalten hatte. Trotzdem kam es ihm etwas merkwürdig vor.

      „Du siehst richtig süß aus, wenn du dich ärgerst“, scherzte Erik, sah auf die Uhr und stand unvermittelt auf: „Ach du meine Güte, ich muss noch zu einem Kunden! Pass auf, Anna, ich muss jetzt los. Ich rufe dich von unterwegs aus an, versprochen.“ Dann gab er Anna einen Kuss, verabschiedete sich von beiden und verließ das Zimmer.

      „Ach Peter“, seufzte Anna und liebkoste ihr Baby liebevoll, „wenn du nicht aufpasst, ergeht es dir eines Tages genauso und du hetzt von einem Termin zum nächsten. Lass dir Zeit mit dem Erwachsenwerden. Das Leben hat so viele Farben, aber mit den Jahren wird man blind. Du bist noch jung, du hast noch alle Zeit der Welt, die Farben zu bestaunen. Deine Urgroßmutter hat einmal gesagt: Manche Menschen haben am Tag der Geburt das Glück, alle Farben auf einmal zu sehen. Ich wüsste zu gern, ob du gerade von ihnen träumst, mein Schatz.“ Anna gab Peter einen sanften Kuss und schlief vor Erschöpfung ein.

      Kapitel 2

      Die Jahre vergingen schnell und eigentlich war bis zu Peters sechstem Lebensjahr nichts Bemerkenswertes geschehen, was man nicht hätte auch bei jedem anderen Kind beobachten können: In diesen Jahren begreifen wir unsere Umwelt, nicht aber die Umwelt uns. Von den Eltern lernen wir das Sprechen, von den Freunden das Fluchen. Begeistert machen wir unsere ersten kleinen Schritte und zeigen Oma und Opa stolz unsere ersten Zähne, wenn sie uns besuchen. Wir sind leicht zornig, aber dafür schwer zu bändigen. Und nicht zuletzt nerven uns die Regeln, mit denen man uns bezwingt, denn schließlich haben wir schon unsere eigenen Regeln, die uns von den Zwängen lösen werden.

      Das Schönste, was das Leben uns in dieser Zeit als Kind zu bieten hat, dürfte wohl die unbeschwerte Fröhlichkeit sein. Wir tollen, spielen, entdecken und lachen. Alles, was wir entdecken, genießt unsere grenzenlose Aufmerksamkeit und weckt in uns eine unbeschreibliche Freude und Neugier. Es ist eine Zeit, in der wir uns zwar bemühen, alles irgendwie einzuordnen, aber unser Einfallsreichtum macht aus jeder Ordnung wieder ein Durcheinander. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht für neue Abenteuer zu gebrauchen wäre. Seien es die Spielzeugautos im Sandkasten, die sich ihren Weg durch den Wüstensand bahnen. Sei es das Dreirad, auf dem wir das Fahren lernen, damit wir Papa endlich morgens in die Arbeit folgen können. Sei es das Karussell auf dem Spielplatz, bei dem wir uns auf eine Rundbank setzen und uns so schnell drehen, dass wir wie ein Weltraumfahrer schwerelos im Kreis schweben, manchmal etwas benommen und von Übelkeit geplagt, wenn wir aus dem Karussell wieder aussteigen. Aber das ist eben etwas, das man in Kauf nehmen muss, wenn man Weltraumfahrer werden möchte.

      Doch wir sind nicht unser ganzes Leben mutige Abenteurer, sondern beginnen eines Tages, uns den Fragen und Problemen des Lebens zu stellen. Fragen, die sich anfangs nur auf das magische Wort „Warum“ beschränken, aber mit den Jahren immer durchdachter gestellt werden und irgendwann so tiefsinnig sind, dass es keine erschöpfende Antwort mehr geben kann, wohl aber Vermutungen, die uns wieder zu neuen Fragen führen. Und was die Probleme anbelangt, so werden sie zunehmend schwieriger. Eines Tages haben wir eigentlich nur noch die Möglichkeit, ihnen auszuweichen, sie zu verharmlosen oder aber wir erklären es zu unserer Lebensaufgabe, sie zu lösen.

      Dies alles nimmt seinen Anfang an unserem ersten Schultag. Mit Stolz tragen wir unsere bunte Schultüte, die nicht zufällig die Form eines kegelförmigen Filters besitzt. Es ist eine Mahnung an uns, das Leben in kleinen Schritten zu bewältigen. Schließlich schneiden wir einen Kuchen auch erst in Scheiben, bevor wir ihn verzehren. Aber eine Mahnung ersetzt natürlich nicht die Erfahrung und was kann wohl schmerzlicher sein, als festzustellen, dass das Leben eine einzige Verpflichtung ist?

      Nun, ich will es euch gerne verraten: Es ist die Farbe der Hilflosigkeit.

      *

      Der Schulgong läutete zum Ende der letzten Stunde. Die Kinder standen auf, zeigten einander ein paar Bilder, steckten ihre Malstifte in ihre Federmäppchen, Stuhlbeine schleiften knarrend über den Fußboden, mit Klick! und Klack! schnalzten die Verschlüsse der Schulranzen zu, die Kinder verließen plappernd das Klassenzimmer, das aufgeregte Schnattern verstummte langsam und hinterließ schließlich eine leere Stille im Raum. Nun ja, nicht ganz. Leichtfüßig pendelte ein Malstift über einem Blatt Papier, über das Peter gebeugt war. Er war der Letzte.

      „Du kannst es zu Hause fertig malen“, meinte die Lehrerin behutsam.

      „Ich bin... schon fertig!“ Peter wühlte alle Gegenstände auf seinem Tisch zu einem Häufchen zusammen, schob sie wie Brotkrümel in seine Schultasche, die er mit einem Klack! zumachte, auf seinen Rücken schwang, um sich dann mit seinen dünnen Armen durch die Schlaufen zu wühlen. Etwas unbeholfen, wie die Lehrerin feststellte. Anschließend lief er hinaus, durch den Gang, die Treppe hinunter, riss die Eingangstür auf, als ob er um sein Leben rannte

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